»Selbst Schwerverletzte wollen keinen Rettungsdienst«
Interview: Gitta Düperthal
Eine Gruppe aus der Schweiz unterstützt seit Mitte November Menschen auf der Flucht, zunächst an der Grenze von Belarus zu Polen, später dann auch an der zu Litauen. Geplant ist, das bis diesen Montag fortzusetzen. Was haben Sie erlebt?
Der Grenzzaun zwischen Polen und Belarus, eine 5,5 Meter hohe und 186 Kilometer lange, mit NATO-Draht bestückte Stahlkonstruktion, soll Menschen davon abhalten, in die EU zu gelangen. Jüngst wurden elektronische Bewegungsmelder und Wärmebildkameras installiert. Militär und freiwillige Armee-Einheiten patrouillieren in Polen. Doch all das stellt für die Flüchtenden lediglich eine Erschwernis dar, kein Hindernis. Sie nehmen dann gefährlichere Wege in Kauf, durchwaten im Winter Flüsse und Sümpfe. Auf dieser Route reisen meist Menschen aus ehemals kolonialisierten Ländern in Zentral- und Südasien oder auch Afrika. Viele hatten sich zuvor in Russland aufgehalten. Fluchtgründe sind Krieg, Vertreibung, politische Verfolgung, Verarmung und Hunger aufgrund kolonialer Ausbeutung, Folgen des Klimawandels oder die Hoffnung auf ein besseres Leben.
Es geht in der Grenzregion sehr repressiv zu.
Immer wieder wird berichtet, dass Militär und Grenzbeamte Menschen in Belarus gewaltsam zwingen, die Grenze nach Polen zu überqueren. Werden sie dort entdeckt, droht ihnen der »Push« zurück. Selbst Schwerverletzte bitten darum, nicht den Rettungsdienst zu rufen, da sein Einsatz auch Polizei oder Grenzwachen alarmiert. Die polnische Grenztruppe »Straz Graniczna« kann eigenständig entscheiden, wer das Recht hat, einen Asylantrag zu stellen. Wer es schafft, landet oft in geschlossenen, überfüllten Lagern, sogenannten »Detention Centers«. Polen ist daher selten das Ziel, viele reisen zum Beispiel nach Deutschland und Frankreich weiter.
Gehen Polen und Litauen an ihren Grenzen zu Belarus unterschiedlich vor?
Menschen in den polnischen Wäldern werden von staatlichen Beamten geschlagen, getreten, vergewaltigt und anderen körperlichen Gewalttaten ausgesetzt. Telefone, Geld und Klamotten werden ihnen geraubt und zerstört. Unbemerkt über Felder und Waldwege zu laufen, ist fast unmöglich. Welche offiziellen Befugnisse das Militär in der Grenzregion hat, wird nicht kommuniziert. In Litauen hatten wir bisher keine Begegnung mit Behörden, doch auch hier kommt es täglich zu »Pushbacks« durch Grenzwache und Polizei. Nach Aussage von Betroffenen ist das Vorgehen der Grenzbeamten an der polnisch–belarussischen und an der litauisch–belarussischen Grenze ähnlich.
Kann der Grenzübergang in die EU überhaupt gelingen?
Werden Menschen in den Wäldern oder auf der Weiterreise in Richtung Deutschland aufgegriffen, werden sie in der Regel an die belarussische Grenze »zurückgeführt«. Oft treffen wir innerhalb kurzer Zeit mehrmals auf dieselben Menschen, da sie wenig später wieder in den polnischen Wäldern ankommen. Manche haben das mehr als zehn Mal hinter sich. Viele sind verletzt. Das Spektrum der Verletzungen reicht von Prellungen, Platzwunden und Knochenbrüchen bis hin zu Unterkühlungen und Erfrierungen sowie lebensbedrohlichen Infektionen.
Sie möchten nicht mit Klarnamen benannt sein – warum?
Der Umgang mit Aktivisten und Unterstützern ist repressiv. Ermittlungsverfahren zum Vorwurf der Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt laufen. Die Polizei schikaniert während der Verkehrskontrollen im Grenzgebiet. Genossen berichten von gewalttätigen Übergriffen. Sie wurden aus Autos gezerrt, mussten sich zur Personenkontrolle auf die Straße legen, wurden bedroht. Juristisch stellen weder Hilfsmaßnahmen im Wald, das Beherbergen von illegalisierten Menschen, noch deren Mitnahme in einem Fahrzeug einen Straftatbestand dar. Im Gegenteil: Es ist Pflicht, Menschen in Notsituationen zu helfen.
Luca Ebner (Name ist der Redaktion bekannt) ist Aktivist einer Schweizer Gruppe, die Geflüchtete an den Grenzen von Litauen und Polen zu Belarus unterstützt
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (19. Dezember 2022 um 07:30 Uhr)Die »Mauer« ist lediglich nach Osten gerückt, nach Südosten, an die Gestade des Mittelmeeres, an die Kanalküste. Die damals nicht laut genug fordern konnten, sie niederzureißen, überbieten sich heute gegenseitig in ihren Forderungen, sie höher, undurchlässiger und damit grausamer zu machen. Das Zählen der Opfer haben sie 1989 eingestellt. Schließlich ist Leid an den Außengrenzen der EU »Werteverteidigung« und keine Verletzung elementarer Menschenrechte.
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