Das Wunder von Delhi
Von Arnold Schölzel
Am Montag und Dienstag war Annalena Baerbock in Indien zum Antrittsbesuch. Das Land, das ab kommendem Jahr mehr Einwohner haben wird als China, tanzt aus der Reihe und macht nicht mit beim Russland-Ruinieren, der wichtigsten, möglicherweise einzigen politischen Idee der deutschen Außenministerin. In Neu-Delhi aber geschah Wundersames: Baerbock hielt beinahe ihre Mackenklappe. Beim Treffen mit ihrem Amtskollegen Subrahmanyam Jaishankar kam das Wort »Russland« kaum vor. ZDF-Korrespondent Andreas Kynast deutete das so: »Belehrungen über Russland nerven Indiens Führung. Sie bekommt von Baerbock auch keine zu hören. Als eine deutsche Journalistin Außenminister Jaishankar fragt, warum Indien seinen Handel mit Russland noch auszuweiten will, wird der bis dahin so höfliche, leise Mann plötzlich scharf.«
Die deutsche Journalistin heißt Sibylle Licht und ist für die ARD vor Ort. Sie fragt auf der Pressekonferenz: »Indien hat die Einfuhr von russischem Öl ausgeweitet – eine völlig entgegengesetzte Position zu den europäischen Sanktionen. Werden Sie Ihre Haltung während der G20-Präsidentschaft ändern?« Jaishankar, der schon Baerbocks Hohlwörter von »Wertepartnerschaft«, »größter Demokratie« und »guter Freund« ertragen musste, antwortet derart drastisch, dass es in keinem deutschen Leitblatt zitiert wird: »Was Ihre Frage zu den Importen fossiler Brennstoffe aus Russland betrifft, so sollten wir zunächst die Fakten klarstellen. Die Europäische Union hat zwischen dem 24. Februar und dem 17. November mehr fossile Brennstoffe aus Russland importiert als die nächsten zehn Länder zusammen. Um einen Vergleich mit Indien zu ziehen: Die Ölimporte der Europäischen Union sind etwa sechsmal so hoch wie die indischen Importe, Gas wird unbegrenzt importiert, während wir keine Importe tätigen, aber die Europäische Union Importe im Wert von 50 Milliarden Euro getätigt hat. Selbst die Kohleimporte der Europäischen Union aus Russland – ich will hier kein bestimmtes Land herausgreifen – liegen 50 Prozent über den indischen Importen.« EU-Europa treffe Entscheidungen, die seinen Energiebedarf in den Vordergrund stellten, und verlange dann von Indien, etwas anderes zu tun. Es erhöhe im Nahen Osten, von wo Indien bisher viel Gas und Öl bezogen habe, die Preise, dennoch zeige Indien Verständnis. Und: »Ich wünschte, die europäischen Medien würden es auch verstehen, das wäre sehr hilfreich.« Um die Kompetenz der ARD-Reporterin zu stärken, gibt Jaishankar ihr noch die Internetadresse, auf der sich auch eine deutsche Journalistin informieren könnte: russiafossiltracker.com. Am Freitag wird dort übrigens gemeldet: Seit dem 24. Februar nahm Russland für Öl, Gas und Kohle weltweit 243 Milliarden US-Dollar ein, 119 Milliarden davon entfielen auf die EU. Bei den Einzelstaaten liegt China als größter Importeur weit vor der Bundesrepublik, der Türkei, den Niederlanden und Indien.
Baerbock erholt sich erst am nächsten Tag etwas. Sie liest eine Rede vor und schwindelt fast wie gewohnt: Russlands Krieg habe »die gesamte Welt erschüttert« und: »Ich bin 40 Jahre alt und habe mein gesamtes Leben in Friedenszeiten, die meiste Zeit im wiedervereinten Deutschland verbracht.« Während des Angriffskrieges der NATO 1999 und der Zerstückelung Serbiens war sie wahrscheinlich gerade abwesend. Afghanistan, Irak usw. – Friedenszeiten.
Nachtrag: Am Freitag berichtet der Tagesspiegel: »Die Bundesrepublik erhält mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin russisches Gas über Importterminals in Nordwesteuropa.« In Rotterdam, Zeebrügge und Dünkirchen lande Flüssigerdgas aus Russland an und werde von dort über Fernleitungen weitertransportiert. Da hält Baerbock den Mund.
Jaishankar, der schon Baerbocks Hohlwörter von »Wertepartnerschaft«, »größter Demokratie« und »guter Freund« ertragen musste, antwortet derart drastisch, dass es in keinem deutschen Leitblatt zitiert wird
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