Parlament der Historiker
Von Arnold Schölzel
Je weniger der Waffen- und Wirtschaftskrieg gegen Russland die erwünschten Resultate bringt, desto intensiver und irrationaler wird der ideologische Feldzug gegen Moskau. Der Bundestag, der mit seinem »Standortauswahlgesetz« für die Endlagerung von hochradioaktivem Atommüll bereits seine Unfehlbarkeit in Physik und Geologie unter Beweis gestellt hat und zuversichtlich einen »Nachweiszeitraum von einer Million Jahre« fürs Müllager beschloss, soll nun auch seine Kompetenz in Geschichte unter Beweis stellen. Genauer: Die soll umgeschrieben werden zugunsten einer zuerst von der Propaganda des deutschen Faschismus erzählten Version, wonach die Hungersnot in der Sowjetunion von 1932 und 1933 ein gezielter Vernichtungsversuch der sowjetischen Führung gegen die Ukraine gewesen sei – der »Holodomor«. Dem stehen zwar die Tatsachen entgegen, aber die mit Nazideutschland kollaborierenden ukrainischen Nationalisten und Faschisten übernahmen die Erzählung. Seit 1991 ist sie Gründungsmythos der wieder kapitalistischen Ukraine.
Bandera als Nationalheld
Nun soll der Bundestag einer Forderung Kiews nachkommen und, wie dpa am Freitag meldete, »die vor 90 Jahren von Sowjetdiktator Josef Stalin gezielt herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine« mit den Stimmen der Koalition und der Union als Völkermord anerkennen. Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem Spiegel lagen demnach ein gemeinsamer Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU vor. Der Entwurf soll am Mittwoch im Bundestag beraten und beschlossen werden.
Das ist geschichtswissenschaftlich konsequent, zumal ein Land wie die Ukraine, das Stepan Bandera zum Nationalhelden gemacht hat, den Antisemiten, Polen- und Russenmörder mit Denkmälern und Straßennamen ehrt, sich geschichtspolitisch nicht irren kann. Zwar erfasste die Hungersnot 1932 große Teile der Sowjetunion von der Ukraine im Westen bis nach Kasachstan im Osten und kostete ungefähr sieben Millionen Tote. Die Sterberate war in Kasachstan am höchsten. Dort starb mit 1,5 Millionen Menschen etwa ein Drittel der Bevölkerung, in der Ukraine waren es mehr als 3,5 Millionen. Allein die Ukraine besteht allerdings darauf, analog dem »Holocaust« einem Vernichtungsfeldzug der sowjetischen Führung zum Opfer gefallen zu sein. Bereits 2019 forderte der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko von Israel eine Gleichsetzung beider Ereignisse und erntete böse Kommentare. Wolodimir Selenskij verlangte kurz nach seiner Wahl zum ukrainischen Präsidenten 2019 dasselbe – ohne Resonanz. Als er auch noch am 20. März 2022 während einer Videoansprache in der Knesset das russische Eingreifen in den seit 2014 in der Ukraine stattfindenden Krieg mit der von Nazideutschland geplanten Vernichtung des jüdischen Volkes während des Zweiten Weltkriegs gleichsetzte, kam ein empörtes Echo. Die Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem kritisierte, unverantwortliche Äußerungen wie jene des ukrainischen Präsidenten würden die Tragödie der Schoah trivialisieren.
Grüne Initiatoren
Dabei macht unter Führung von Bündnis 90/Die Grünen nun auch das deutsche Parlament mit. Der Spiegel zitiert aus dem Antrag: »Betroffen von Hunger und Repressionen war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen.« Die Initiatoren um den Grünen-Abgeordneten Robin Wagener, Vorsitzender der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe im Bundestag, schreiben weiter: »Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.« Weiter heißt es in dem Resolutionsentwurf laut FAZ, der »Holodomor« reihe sich ein »in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden«. Das Verbrechen sei »Teil unserer gemeinsamen Geschichte als Europäerinnen und Europäer«. Und: »Der massenhafte Hungertod war keine Folge von Missernten, sondern von der politischen Führung der Sowjetunion unter Josef Stalin verantwortet.« Sowie: »Der Holodomor stellt damit ein Menschheitsverbrechen dar.« Es sei aber in Deutschland und der EU bisher wenig bekannt. Die Bundesregierung sei aufgefordert, zur Verbreitung des Wissens darüber und zum Gedenken an dessen Opfer beizutragen. Zudem solle sie »jeglichen Versuchen, einseitige russische historische Narrative zu lancieren, weiterhin entschieden entgegenwirken«. Laut dpa signalisierten Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), sie seien »sehr positiv« zu dem Antrag eingestellt.
Wagener erklärte der Zeitung zufolge, der russische Präsident Wladimir Putin stehe »in der grausamen und verbrecherischen Tradition Stalins«. Heute werde die Ukraine erneut mit russischem Terror überzogen. »Erneut sollen durch Gewalt und Terror der Ukraine die Lebensgrundlagen entzogen, das gesamte Land unterworfen werden.«
Bis zum Beginn dieses Jahres hatten etwa 15 Staaten diese Einstufung als Völkermord akzeptiert, darunter Australien, Ecuador, Estland, Georgien, Kanada, Lettland, Litauen, Mexiko, Peru, Polen, Portugal, Ungarn und der Vatikan. Eine entsprechende Resolution wurde 2008 vom US-Repräsentantenhaus verabschiedet, im April 2022 schloss sich das tschechische Parlament an. Am Donnerstag folgten Irland, die Republik Moldau und Rumänien.
Hintergrund: Geschichtspolitik
Unter dem ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma wurde 1998 ein nationaler Gedenktag für die Opfer der Hungerkatastrophe von 1932/33 eingeführt und unter seinem Nachfolger Wiktor Juschtschenko, der durch eine »Farbenrevolution« 2004 an die Macht gekommen war, 2006 das Geschehen vor 90 Jahren per Gesetz zum Genozid am ukrainischen Volk erklärt. Juschtschenko bemühte sich weltweit um die Anerkennung des Völkermords.
Unter ihm, der auch den faschistischen Kollaborateur Stepan Bandera zum Nationalhelden erklärte, wuchs die Zahl der Publikationen zum Thema »Holodomor« rasch. 2008 wurde in Kiew das »Nationale Museum des Holodomor-Genozids« eingerichtet. Bis 2017 wurden in der Ukraine 7.000 Denkmäler und Gedenkstätten für die Opfer errichtet.
Auf dem Staatsgebiet der heutigen Ukraine wurden rund eineinhalb Millionen Juden von Wehrmacht, SS und einheimischen Kollaborateuren wie Banderas Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) ermordet. Die Erinnerung an den Judenmord spielte in der Ukraine jedoch lange keine Rolle – die an die 27 Millionen Toten der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg amtlich ohnehin nicht. Zwar gedachte 1991 die Regierung am 50. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar in einer Erklärung der »Massenvernichtung sowjetischer Bürger, vor allem Juden, durch faschistische deutsche Invasoren«. Aber zur Errichtung von Holocaustgedenkstätten in Charkiw (1996), Odessa (2009) und Dnipro (2012) »kam es nur dank privater Initiativen« (FAZ).
Der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken ist die Ukraine nicht beigetreten. Die Judenvernichtung ist bis heute kein Bestandteil der Kiewer Geschichtspolitik.
Am Freitag erklärte der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk im FAZ-Interview zum Holodomor: »Es war eine der größten Tragödien in der Geschichte der Menschheit.« Im Anschluss forderte er mehr deutsche Waffen für den Krieg gegen Russland. (as)
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Absurde Faktenverdrehung
vom 26.11.2022
Die sowjetische Hungersnot 1932/1933 hatte weitaus mehr mit den Krisen gemeinsam, vor denen seit dem Zweiten Weltkrieg Entwicklungsländer standen, die versucht haben, ungerechten Forderungen imperialistischer Staaten zu entsprechen, indem sie die industrielle Entwicklung dadurch forcierten, dass sie ihrer eigenen Bevölkerung massive Opfer auferlegten. Die Kolonialpolitik Frankreichs führte zum Beispiel 1931 im damaligen Obervolta zu einer Hungersnot. Das Sterben in dieser Hungersnot war im Verhältnis viel höher als in der UdSSR, obwohl das betroffene Land und die Bevölkerung viel kleiner waren.