Washingtons Geduld
Von Arnold Schölzel
Die »offenbar fehlgeleitete Rakete auf polnisches Gebiet« habe »die westliche Öffentlichkeit in der vergangenen Woche zu Recht stark beschäftigt«, leitet FAZ-Außenpolitikchef Nikolas Busse am Dienstag einen Leitartikel ein. »Öffentlichkeit« steht hier für die in Staats- und Konzernmedien veröffentlichte Meinung. Die hatte sich sehr viel mit dem Einschlag in Polen, sehr wenig mit den am Freitag jener Woche bekanntgewordenen ukrainischen Kriegsverbrechen an russischen Soldaten beschäftigt. Busse geht es um etwas anderes, um die Diskrepanz zwischen medialer Aufregung und Realität.
Er schreibt: »Letztlich aber war der Vorfall nur ein kleines Detail an einem Tag, der eine andere grundlegende Erkenntnis bereithielt: Russland führt den Krieg trotz jüngster Rückschläge an der Front mit unverminderter Härte weiter.« Mit dem größten Luftangriff seit Beginn der Invasion demonstriere Putin nicht nur der G20-Runde auf Bali, »dass er nicht vorhat, von der Ukraine abzulassen«. Ganz im Gegensatz zu westlichen Kriegsverlängerern, die im April den Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine torpedierten. Vom Krieg nicht ablassen, lautet bisher die westliche Handlungsmaxime.
Das ändert sich gegenwärtig langsam, weil die Russen – bösartig wie immer – einfach nicht aufgeben. Busse: »Die Wucht der jüngsten Angriffswelle zeigt, dass den Russen die Munition dafür nicht ganz so schnell ausgegangen ist, wie das im Westen vielfach vermutet wurde.« Die Vorhersagen über den baldigen wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch Russlands waren demnach voreilig – vom Spiegel (»Gefährlich schwach«) über Annalena Baerbock (»Die Fassade mag noch stehen, dahinter taumelt die russische Wirtschaft aber wie ein angeschlagener Boxer«) bis zum britischen Geheimdienst, der seit dem 24. Februar täglich von russischen Niederlagen, Chaos, Mangel an allem und jedem berichtet, um der »Desinformationskampagne« Moskaus entgegenzutreten. Manchmal helfen die Briten offenbar bei der Beschaffung ihrer Wahrheiten nach und sprengen Gasleitungen oder lassen Drohnen gegen russisches Militär starten.
Das verhält sich wie der irakische Widerstand in den 2000er Jahren, die afghanischen Taliban bis zum Einzug in Kabul 2021 oder Militärs in Mali und Burkina Faso 2022, die Bundeswehr und Frankreichs Militär aus ihren Ländern werfen: Es ist unbeeindruckt. Busse hält dem westlichen Triumph etwas schüchtern, aber immerhin entgegen: »Das relativiert ein wenig den russischen Abzug aus Cherson. Aus politischer Sicht war er ein großer Erfolg für die Ukraine. (…) Aus militärischer Sicht ist der Rückzug auf das linke Ufer des Dnipros für die russischen Streitkräfte sogar von Vorteil, weil der Fluss eine natürliche Barriere bietet.« Und nach Schätzungen westlicher Militärs bis zur Hälfte der abgezogenen Truppen woanders, z. B. im Donbass eingesetzt werden könnten. Busse schlussfolgert: »Die ukrainischen Streitkräfte können trotz ihrer bemerkenswerten Erfolge vor Kiew sowie im Osten und Süden des Landes in absehbarer Zeit nicht mit einem Sieg gegen die Invasoren rechnen.« Die Einsicht ist nicht auf Frankfurter Mist gewachsen, Busse hat sie vom US-Generalstabschef Mark Milley übernommen. Dessen Drängen auf Diplomatie habe »in der amerikanischen Führung zum ersten Mal zu einem offenen Dissens über die weitere Strategie« geführt.
Spaltung in Washington ist stets gut für Frieden. Das sieht auch Busse so, der im letzten Satz seines Artikels in Klartext verfällt: »Mehr denn je hängt der Ausgang des Krieges nicht nur davon ab, ob die Ukrainer oder die Russen länger durchhalten, sondern auch, wie weit Amerikas Geduld reicht.« Hieß bisher immer »Putins Krieg«.
Die Vorhersagen über den baldigen wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch Russlands waren wohl voreilig – vom Spiegel (»Gefährlich schwach«) über Annalena Baerbock (»Die Fassade mag noch stehen, dahinter taumelt die russische Wirtschaft aber wie ein angeschlagener Boxer«) bis zum britischen Geheimdienst, der seit dem 24. Februar täglich von russischen Niederlagen, Chaos, Mangel an allem und jedem berichtet, um der »Desinformationskampagne« Moskaus entgegenzutreten.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (28. November 2022 um 09:36 Uhr)Ja, es stimmt, zwischen medialer Berichterstattung und Realität besteht tatsächlich eine riesen Diskrepanz! Zum Beispiel: »Russland führt den Krieg trotz jüngster Rückschläge an der Front mit unverminderter Härte weiter.« Hier wird von Rückschlägen an der Front gesprochen, obwohl in der Realität die Ukraine nur die Gebiete wiederbesetzten konnte, bei denen sich die Russen selbst für einen Rückzug entschieden haben! Weiterhin ist die Propagandakampanien des britischen Geheimdiensts von Anfang an nichts anderes als »Pfeifen im Walde«! Darüber hinaus, wenn es in demokratischen Staaten wie Spanien und Großbritannien nicht möglich ist und wird, für die Basken, Katalanen und für die Schotten Selbstbestimmung zu verwirklichen – genauso wie für die russisch- und ungarischsprachigen Gebieten in der Ukraine –, und nicht gelingt, das durch Diplomatie zu regeln, dann muss man auch im 21. Jahrhundert überall mit Waffen vorgehen. Das sind Diskrepanzen zwischen medialen und tatsächlichen Realitäten, woran erstrangig die Politik die Schuld trägt, wozu jedoch Ihr Journalisten auch wesentlich beigetragen habt!
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