London stellt ruhig
Von Dieter Reinisch, Galway
Seit Februar gibt es in Belfast keine funktionierende Regierung. Und London setzt alles daran, eine Neuwahl in Nordirland weiter gesetzlich hinauszuzögern. Ein entsprechender Gesetzentwurf, der am Montag im Parlament eingereicht wurde, setzt eine neue Frist zur Regierungsbildung bis zum 8. Dezember. Diese kann anschließend noch einmal bis zum 19. Januar 2023 verlängert werden. Können sich die beiden wichtigsten Parteien dann noch immer nicht auf eine Einheitsregierung einigen, müsste spätestens am 13. April eine Neuwahl stattfinden.
Losgetreten hatte die Krise die probritische Democratic Unionist Party (DUP), als sie im Februar aus der Koalition mit der republikanischen Sinn Féin (SF) austrat. Die DUP fordert das Ende des sogenannten Nordirland-Protokolls – ein Zusatzvertrag zum »Brexit«-Abkommen, der die Provinz trotz des EU-Austritts des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt beließ. Die Unionisten lehnen jede Sonderstellung Nordirlands ab. Neuwahlen im Mai verschärften die Situation weiter, da bei diesen SF erstmals in der Geschichte Nordirlands stärkste Partei wurde. Ihr steht nun der Posten des Regierungschefs zu. Die DUP setzte ihren Boykott jedoch fort.
Am 28. Oktober lief eine Frist zur Regierungsbildung aus, alle Kabinettsmitglieder verloren ihre Posten. Der britische Nordirland-Staatssekretär Christopher Heaton-Harris hatte zuvor zwar angekündigt, »unverzüglich nach Verstreichen der Frist« Neuwahlen anzusetzen. Er wurde dann aber vom neuen britischen Regierungschef Rishi Sunak zurückgerufen, der allerdings auch keine Lösung für den Konflikt aufzeigt. So wurde nun die Ende Oktober ausgelaufene Frist einfach verlängert. Heaton-Harris verband die Entscheidung mit der Forderung, »diese verlängerte Zeit zu nutzen, um zusammenzukommen und sich für die Interessen aller Menschen in Nordirland einzusetzen«. Londons Priorität sei, »dass die gewählten Politiker ihre Rolle in einer starken, dezentralisierten und lokal verantwortlichen Regierung, wie sie im Karfreitagsabkommen von Belfast vorgesehen ist, wieder wahrnehmen«.
Es sind jedoch gerade die Formulierungen des Karfreitagsabkommens von 1998, das den 30 Jahre dauernden Nordirland-Konflikt beenden sollte, die den DUP-Boykott ermöglichen. Darin wird verlangt, dass die stärkste Partei – seit Mai SF – den Regierungschef stellt und der Vertreter von der stimmenstärksten Partei der größten Gruppierung, die nicht den Regierungschef stellt, kommen muss. Das ist die DUP als die größte protestantische Partei. Eine andere Konstellation ist nicht möglich, solange das Karfreitagsabkommen nicht überarbeitet wird, woran Westminster offenbar kein Interesse hat. Statt dessen schiebt London das Problem weiter vor sich her.
Das nun vorgelegte Gesetz umfasst zudem weitere Maßnahmen: So werden die Gehälter der Abgeordneten im Regionalparlament Stormont um ein Drittel gekürzt, solange es keine Regierung gibt. Die Beamten können weiterarbeiten, und auch notwendige Neueinstellungen sind nach dem 1. Januar möglich. Eine Regierungsbildung durch die Fristverlängerung ist indes nicht zu erwarten. Zwar verhandeln London und Brüssel wieder über das »Nordirland-Protokoll«. Der eigentliche Grund, aus dem die DUP eine Regierungsbildung blockiert – nämlich das Fernhalten der Sinn Féin von der Macht, wird nicht aus dem Weg geräumt. Auch Neuwahlen werden daran voraussichtlich nichts ändern. Aktuellen Umfragen zufolge könnte SF ihr Ergebnis vom Mai sogar noch verbessern, derzeit werden den Republikanern 32 Prozent vorhergesagt. Es wäre das beste Ergebnis einer Partei seit dem Beginn des Friedensprozesses 1996.
Zustimmung zum Vorgehen Londons kam derweil aus Dublin. Regierungschef Micheál Martin von der konservativen Fianna Fáil begrüßte das neue Gesetz, durch das es »endlich eine Pause geben« würde. Neuwahlen während der Verhandlungen hingegen würden »polarisieren«. Hier liegt der Hauptgrund für die Fristverlängerung: Nordirland soll ruhiggestellt werden, während London und Brüssel ohne Mitspracherecht der britischen Provinz über deren Zukunft entscheiden.
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