Einmal reinsaugen, bitte
Von Tim Meier
Es ist nicht unüblich, dass eine Band, deren Albumdebüt knapp dreißig Jahre zurückliegt und die ein Jahrzehnt lang weder live aufgetreten ist noch ein neues Album veröffentlicht hat, bei ihrer Wiederkehr auf die Bühne ein Best of ihrer Hits spielt. Ebenfalls nicht unüblich, dass es bei solchen Konzerten nur wenige musikalische Überraschungen gibt.
Anders Stereolab. Die spielten entgegen gängiger Routinen ihrer Musikergeneration am Donnerstag abend im Berliner Huxleys vor knapp 1.200 Besuchern zur Abwechslung Songs aus dem unbekannteren, mitunter sperrigeren Teil ihrer riesigen Diskographie. Weshalb? Weil die Gruppe aus Großbritannien so was kann. Weil die Songs hochwertig sind und die Band es ihrem Publikum zutraut, sich akustisch fordern zu lassen. Und es funktioniert ja auch: Als viertes Stück des Abends spielen Stereolab das 17 Minuten lange Melodiemosaik »Refractions in the Plastic Pulse«, nach dem hingerockten »Harmonium« das sanftmütig-verfrickelte »I Feel the Air (of Another Planet)«, eine achtminütige Verneigung vor Arnold Schönbergs Vertonung des Gedichts von Stefan George. Das Publikum ist dabei, lässt sich in die teilweise hypnotisch-repetitiven Melodien regelrecht reinsaugen, und als das reguläre Schlussstück »Super-Electric« zu einer Avantpop-Jam-Session ausufert, rastet es sogar ein bisschen aus.
Die Tracklist von Lætitia Sadier und Tim Gane entspricht nicht nur dem musikalischen, sondern auch dem politischen Konzept der Gruppe. Bereits die Vorgängerband McCarthy war bekannt für in melodischen Indiepop gepackte linke satirische Texte (die Manic Street Preachers ließen sich prompt davon inspirieren). Die Schärfe von Stereolabs bisweilen situationistisch angehauchtem Marxismus, dessen politischer Ton mit der nahezu unaufgeregten, clever arrangierten, verspielten Musik so schön harmoniert, erkennt man erst bei genauerem Hinhören, weil sie mit nachgerade erhabener Selbstverständlichkeit vorgetragen wird.
Wie die Klänge der Band an die Avantgarde der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnern, verweisen auch die Texte in eine Zeit, in der linke, vor allem kommunistische Anschauungen kein Kuriosum, sondern eine selbstverständliche Haltung zu Gegenwart und Zukunft waren. Besungen werden aber nicht die besseren Tage, Stereolab lieben es aktuell.
»Eye of the Volcano« von der »Fab Four Suture«-Compilation ist ein Manifest gegen die Expropriation, also Enteignung unserer Privatsphäre: »What we bring to our intimacy / Our bodies turn to commodities.« Die Konsequenzen sind bekannt: »We treat our bodies like machines / Facism within.« Schon 2006 haben Stereolab die ideologische Funktion des heutigen »Gym«-Wahns vorausgesehen. »Delugeoisie« vom letzten Album »Not Music« wiederum ist eine nüchterne Betrachtung der bürgerlichen Illusion von Glück.
An diesem Abend schmerzlich vermisst wurden weniger bestimmte Songs, eher Gitarristen und Sängerin Mary Hansen, deren Tod sich am 9. Dezember zum zwanzigsten Mal jährt. Und zwei Hits hatten Stereolab auch im Repertoire: das discopoppige »Miss Modular« und das von Sadier mit »Französisch Disko« angekündigte rockige »French Disko« als Zugabe. Bei den berühmten Zeilen »Solidarity can bring sense in this world – La Resistance!« flogen sogar ein paar Fäuste in Luft.
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