Es riecht so streng
Von Stefan Siegert
»Rote Linien« steht über dem Text. Im Vorspann heißt es: »Wie würde die klassische Musikwelt bei einem Angriff Chinas auf Taiwan reagieren? Ein Zukunftsszenario, das viel über unsere Gegenwart aussagt.« Im Klassikonlinemagazin VAN wird einem in einem Essay vom Mai auf diese Weise die Fiktion eines Angriffskriegs Chinas auf die Insel Taiwan schmackhaft gemacht. Der Angriff Chinas, heißt es phantasievoll, habe »am Donnerstag letzter Woche« begonnen.
China greift an? Ein Szenario, das sich offensichtlich für die Realität internationaler Politik von 1945 bis heute nicht interessiert. Es geht darin mehr um die nach dem eingebildeten chinesischen Angriff zu erwartenden »Zerwürfnisse in der Klassikwelt«. So wichtig solche Zerwürfnisse für ein Klassikmagazin sein mögen – sie sagen über seine politische Haltung mehr aus als über »unsere Gegenwart«. Denn die Aufzählung, wer alles von der westlichen Klassikprominenz im Sommer 2022 seine Herbsttourneen durch die Volksrepublik absagt, wer seine Residenzen in den chinesischen Metropolen storniert und überhaupt, wer alles revidiert und cancelt, was bisher an Verständigung und mutuellem Vorteil zwischen dem Westen und der aufstrebenden Volksrepublik entstanden ist, vollzieht bezogen auf China im Grunde nur nach, was bezogen auf Russland im Unisono westlicher Propaganda der Gegenwart längst sprachgeregelt und festgeschrieben war. Solche Aufzählungen riechen nebenbei bemerkt in der Situation, worin sie niedergeschrieben werden, auch unangenehm nach Denunziation: Wer hat noch nicht, wer muss sich noch distanzieren?
Dem umsichtigen Beobachter fiele es leichter, solchen Gedanken zu folgen, hätten sich bisher so kompetente und durchweg um Gerechtigkeit bemühte Medien wie VAN vergleichbar empört gezeigt auch über weltweite Menschenrechtsverletzungen und illegale Interventionen vor (!) dem 24. Februar 2022. Aber von Kriegs- und Hungerkatastrophen wie derzeit im Jemen; von Putschen und Interventionen an so vielen Orten der Welt wie nie zuvor; von illegalen Foltergefängnissen, Drohnenmorden an Tausenden unschuldiger Menschen und schließlich vom Schicksal eines Journalisten wie Julian Assange, der es gewagt hat, solch jahrzehntelange gezielte Zerstörung des Völkerrechts durch USA und NATO unwiderleglich aufzudecken – will VAN bedauerlicherweise offenbar nichts wissen.
Die ausgesprochen aggressive Spezifik US-amerikanischer Geopolitik ist seriös belegt, sie ist unbestritten, nur eben vom Westen extrem einseitig kommuniziert. Würden Medien wie VAN ihre Aussagen über die »politischen Realitäten in China«, im einzelnen etwa über das »hegemoniale Expansionsstreben und die Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Xi Jinping« oder über »die kulturellen Genozide in Tibet und Xinjiang«, bis an die Ursprungsquelle zurück ebenso seriös belegen, wäre dem an möglichst umfassender Information auch über Russland und China interessierten Beobachter im besten, ganz unironischen Sinn geholfen.
Niemand bestreitet die Existenz des Schreckenslagers im illegal von den USA annektierten Guantanamo. Was aber wäre in den Westmedien, was wäre in der Welt los, nähmen Russland und China allein diese eklatante Verletzung des Völkerrechts zum Anlass, massiv mit Flugzeugträgern und Raketenkreuzern im Golf von Mexiko aufzulaufen, wie es die USA aus dem einzigen Grund einer versuchten Wiedergewinnung ihrer dramatisch schwindenden Weltvormachtstellung seit Jahren im Südchinesischen Meer tun? Ein Weltkrieg wäre unvermeidlich, würde China – einem weiteren, zugegeben frei erfundenen Szenario nach – wie die USA im Falle Taiwans einen sich von der Bundesrepublik abspaltenden sozialistischen Freistaat Bayern bis an die Zähne bewaffnen und demonstrativ diplomatisch aufwerten, indem Beijing das Land wie ein vollgültiges Mitglied der UN behandelte, obwohl nach den Regeln der Völkergemeinschaft Bayern so gut ein Teil der Bundesrepublik ist wie Taiwan eben ein Teil Chinas.
Bayern ist nicht Taiwan, und China hat Taiwan nicht angegriffen. Aber ohne die Volksrepublik, so nun weitere Tatsachen, müsste Taiwan sich ökonomisch schon sehr nach der Decke strecken, so eng sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der abtrünnigen Insel und der Volksrepublik, die Menschen beidseits der Straße von Taiwan reisen frei hin und her, Taiwan gehört zu den großen Profiteuren des riesigen chinesischen Festlandsmarkts.
Für China-Geneigte bot das VAN-Szenario – wenn auch natürlich negativ konnotiert – am Ende dann doch noch eine kleine Freude. Der Starpianist Lang Lang, für VAN in Sachen der auch vom Onlinemagazin halluzinierten Aggressivität Chinas allzu lange stumm, ließ sich in der staatlichen englischsprachigen Zeitung China Daily nach einem Treffen mit Xi Jinping 2015 in New York, wo Lang Lang lebt, mit den Worten zitieren: »Ich hätte nie gedacht, dass die Hand von Präsident Xi so warm und weich ist. Er ist der sanfteste und freundlichste Spitzenpolitiker, den ich je getroffen habe. Wie ein echter Onkel. Ich habe mich ihm sehr nahe gefühlt.« Na, also. Geht doch.
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