Madrid auf der Straße
Von Carmela Negrete
Es war eine der größten Demonstrationen der vergangenen Jahrzehnte. Am Sonntag sind in der spanischen Hauptstadt Madrid Hunderttausende gegen mögliche Privatisierungen und Kürzungen im Gesundheitsbereich, die die Chefin der Regionalregierung, die Rechtskonservative Isabel Díaz Ayuso, in den vergangenen drei Jahren durchsetzt hat, auf die Straße gegangen. Organisiert worden war der Marsch von Nachbarschaftsinitiativen, Gewerkschaften und Berufsverbänden aus dem Gesundheitsbereich. Laut Anmeldern demonstrierten rund 600.000 Menschen, die Polizei sprach von 200.000 Protestierenden, die sich in vier Zügen ins Stadtzentrum bewegten. Tausende Ärzte, Krankenschwestern und anderes medizinisches Personal standen dabei Seite an Seite mit Bewohnern der Hauptstadt. Viele der Teilnehmenden trugen weiße Tücher um den Hals – das Symbol der »weißen Flut«, der Proteste von medizinischem und Pflegepersonal, die nach 2012 gegen von der sogenannten Troika durchgedrückte Kürzungen auf die Straße gingen.
Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte Ende Oktober die Einführung eines neuen Systems zur »Notversorgung außerhalb von Krankenhäusern«. Dieses sieht vor, dass Ärzte der gesamten Region Madrid beliebig in solchen Zentren eingesetzt werden können – was laut betroffenem Personal unvereinbar mit dem Privatleben ist. Auch sollen anstelle des persönlichen Kontakts in einigen dieser Zentren Videosprechstunden mit Ärzten und Krankenschwestern treten. Am Montag der vergangenen Woche kritisierte der Gewerkschaftsverband Comisiones Obreras (CCOO) in einer Erklärung, in der Notaufnahme seien eine »persönliche Behandlung vor Ort« sowie »eine direkte körperliche Untersuchung« unabdingbar für die Diagnose und Behandlung von Kranken.
Bereits am 27. Oktober, dem Tag, an dem das neue System in Kraft trat, drückten Ärzte ihre Unzufriedenheit aus: Laut dem Gesundheitsministerium von Madrid meldeten sich 60 Prozent derjenigen Ärzte, Krankenschwestern und -helfer krank, die für den Einsatz in den 78 neugeschaffenen Zentren vorgesehen waren. Dem Onlineportal eldiario.es zufolge kündigten zudem gleich nach dem Start rund 30 Ärzte. Am Montag der vergangenen Woche befanden sich zudem die Ärzte der Notaufnahmen in Madrid in einem unbefristeten Streik.
Die Gesundheitsversorgung in Madrid ist seit Jahren unterfinanziert. Besonders deutlich wurde der Ärztemangel zu Beginn der Coronapandemie, als die rechte Regionalregierung die Notaufnahmeeinrichtungen Dutzender Gesundheitszentren schließen ließ. Eigentlich sind in Spanien die Gesundheitszentren auch in der Nacht sowie am Wochenende geöffnet, wodurch die Notaufnahme in den Krankenhäusern entlastet wird. Nicht so in Madrid, wo seit zwei Jahren sowohl das Personal als auch die Hospitäler überlastet sind.
Dieser Kurs brachte der Regionalpräsidentin Díaz Ayuso von der rechtskonservativen Volkspartei (PP) in den ersten Jahren der Pandemie Kritik ein. In der Region starben besonders viele Menschen an einer Coviderkrankung – auch, weil Díaz Ayuso vergleichsweise wenige Maßnahmen zur Eindämmung des Virus einführte, was sie mit der »Freiheit« der Bürger begründete. Insbesondere in den öffentlichen Alten- und Pflegeeinrichtungen starben während der ersten Monate der Pandemie viele Bewohner, Monate später kam ans Licht, dass die Heime offenbar angewiesen worden waren, Alte und Schwache nicht in die Notaufnahmen der überlasteten Krankenhäuser zu bringen.
Während Díaz Ayusos PP die Beteiligung an der Massendemonstration vom Sonntag als einen »Misserfolg« wertete, hofft die linke Opposition darauf, dass die Mobilisierung den »Beginn eines Wandels« bedeutet, so die Sprecherin der Linkspartei Podemos, Alejandra Jacinto. Am 28. Mai 2023 wird in Madrid ein neues Regionalparlament gewählt, die Region Madrid wird seit 1995 ununterbrochen von den Rechtskonservativen regiert. Auch aktuelle Umfragen sehen Díaz Ayuso weiterhin bei einer knappen absoluten Mehrheit. An zweiter Stelle wird die linkssozialdemokratische »Bürgerplattform« Más Madrid verortet. Deren voraussichtliche Spitzenkandidatin Mónica García ist selbst Ärztin und spricht sich gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens aus. Erst an dritter Stelle käme mit 19 Prozent der Stimmen der auf Landesebene regierende sozialdemokratische PSOE. Ob und wie die derzeitigen Proteste die in sieben Monaten anstehende Wahl beeinflussen, ist offen. Linken Kräften werden in Umfragen in Spanien häufig niedrigere Stimmanteile vorausgesagt.
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