»Die extreme Rechte hat eine organische Macht«
Interview: Torge Löding, Sao Paulo
Als Kandidat der brasilianischen Arbeiterpartei PT konnte Luiz Inácio Lula da Silva knapp die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden. Wie schätzen Sie Lulas Wahlsieg vom 30. Oktober ein?
Auf der einen Seite ist es quantitativ unser kleinster Sieg bei einer Wahl. Nicht einmal zwei Millionen Stimmen Unterschied sind in dem Riesenland Brasilien nicht viel. Lula hat mit einem so kleinen Vorsprung gewonnen wie nie zuvor. Auf der anderen Seite ist die historische Bedeutung gigantisch. Wäre Jair Bolsonaro nicht geschlagen worden, könnte er weitere vier Jahre die Exekutive und damit den Haushalt kontrollieren. Er hätte das Vorschlagsrecht für Verfassungsrichter. Für Lateinamerika ist der Sieg auch von allergrößter Bedeutung. Er steht für einen neuen progressiven Zyklus.
Der Bolsonarismus verliert, geht aber gestärkt aus den Wahlen hervor. Die Fraktionen der extremen Rechten in beiden Kammern des Parlaments sind erstarkt, wichtige Gouverneursämter wurden errungen. Wieso dieser Erfolg?
Bolsonaro hat vieles getan, um seine Macht auszubauen und zu festigen. Dazu hat er den Staat genutzt. Mit der Mehrheit des Parlaments hat er einen Schattenhaushalt geschaffen, mit dem er seine Wiederwahl sicherstellen wollte. Dann hat er auf fast kriminelle Weise die Autobahnpolizei am Wahltag in Lula-Hochburgen im Nordosten so eingesetzt, dass sie die Anfahrt in die Wahllokale erschwerten. Das erklärt aber bei weitem nicht alles. Denn Bolsonaro und die extreme Rechte haben in Brasilien heute eine organische Macht, die Konsequenz einer richtigen politischen Linie ist.
Was meinen Sie damit?
Die Reaktion auf die Finanz-, Sozial- und Umweltkrise, die sich seit 2008 auch in Brasilien bemerkbar macht. Auf diese Krisen wird eine radikale Antwort gegeben. Die der extremen Rechten produziert natürlich nur mehr Krise, Chaos und Zerstörung. Trotzdem haben sie verstanden, dass der radikale Diskurs, der den Aufbau einer neuen Gesellschaft verspricht, ansprechend und erfolgreich ist. Es gibt eine Ideologie, eine Utopie – auch wenn diese nur eine Dystopie ist. Mit dem radikalen Diskurs können sie Massen bewegen.
Sie sehen die extreme Rechte in Brasilien also als soziale Bewegung. Was kann die Linke dem entgegensetzen?
Im Wahlkampf ging es vor allem um die Verteidigung der Demokratie, die Verteidigung der alten Ordnung, die mithilfe eines breiten Bündnisses garantiert werden soll. Also im Kern ein konservativer Diskurs, den die Linke hier führt. Insbesondere in der ersten Wahlrunde hat Lula sich immer wieder auf seine früheren Regierungen bezogen – nach dem Motto »erinnert ihr euch daran, als noch alles gut war …«. Unsere Herausforderung ist aber vielmehr die Zukunft. Was hat die Linke anzubieten für die Zukunft Brasiliens, also für die Produktivstruktur, die internationale Zusammenarbeit? Das fehlte, wurde im Wahlkampf für die Stichwahl aber zumindest ansatzweise betrachtet.
Wie soll es der Linken gelingen, im Kampf der Ideen wieder in die Offensive zu kommen?
Mit Wagemut! Wiederaufbau nach den zerstörerischen Bolsonaro-Jahren ist wichtig, aber die Linke muss nach vorn schauen. Auf drei unterschiedlichen Ebenen muss angesetzt werden. Zunächst auf der Regierungsebene, nachdem wir jetzt die Wahlen gewonnen haben. Entscheidend werden bereits die ersten 100 Tage sein, in denen es Lula gelingen muss, einen Teil der rechten Parteien aus dem Bündnis mit Bolsonaro herauszubrechen. Er muss auch umgehend Maßnahmen für seine Basis umsetzen, also im Haushalt zugunsten für Sozialpolitik umschichten und somit zeigen, dass Veränderungen anstehen und diese müssen dann auch mittel- und langfristig umgesetzt werden.
Zweitens gibt es für die linken Parteien – also PT, Psol, PCdoB und bedingt auch Rede – die Aufgaben, sich besser strategisch zu koordinieren und zu artikulieren, weil unser gemeinsamer Feind so groß ist. Von diesem müssen wir lernen, dass Mobilisierung nicht nur im Wahlkampf stattfinden darf. Drittens kommt den sozialen und kulturellen Bewegungen eine sehr große Rolle zu. Diese wurden geschwächt durch den Putsch 2016 und die Pandemiejahre. Sie müssen wieder stark werden und sich auf einen Zyklus von Kämpfen vorbereiten.
Maria Carlotto ist Soziologieprofessorin an der Bundesuniversität ABC in Sao Paulo und gehört der Gruppe »Manifesto Petista« an, die sich um eine sozialistische Politik in der Arbeiterpartei PT bemüht
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