Ende der »kolumbianischen Epoche«

In China verschwand die teilweise bestehende Identität von Klassenkampf und nationalem Kampf nicht mit dem Ende des »Jahrhunderts der Demütigungen«. Zwar wurde 1949 die Volksrepublik ausgerufen, doch der Prozess der nationalen Wiedervereinigung und der Wiedervereinigung der territorialen Integrität war noch nicht abgeschlossen. Man hatte sich vielmehr vom Westen betriebenen Bestrebungen zur Zerstückelung des Landes zu erwehren, der die separatistischen Bewegungen (in Tibet, in Xinjiang, in der Inneren Mongolei und anderswo) unterstützte und alimentierte. Ohnedies Ziel eines erbarmungslosen Wirtschaftskrieges, war die Volksrepublik China darüber hinaus auch stets der Gefahr einer Militäraggression ausgesetzt und nicht von ungefähr lange Zeit von der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen ausgeschlossen. Vor allem aber war das Land eines der ärmsten Länder der Erde und lief gemäß Maos Erklärung vom 16. September 1949 Gefahr, vom »USA-Mehl« abhängig und zu einer »amerikanischen Kolonie« zu werden. (…)
Die These von der substantiellen Konvergenz von Klassenkampf und nationalem Kampf erreichte ihre Hochzeit mit dem Machtantritt Deng Xiaopings. Die von ihm betriebene Politik der Reformen und der Öffnung ist oftmals als eine Angleichung Chinas an den Westen, als Beginn einer Windstille auf der internationalen Bühne interpretiert worden. Das aber ist eine eher oberflächliche Betrachtung. Unter gewissen Gesichtspunkten war diese Politik der Versuch, den verheerendsten Formen des weitergeführten Wirtschaftskrieges zu entfliehen. Während lange Zeit die Drohung mit einer »nuklearen« Attacke in kommerzieller Gestalt aufrechterhalten wurde, konnte man nun einem subtilen Spiel beiwohnen: Die USA hofften, über ein riesiges Land zu verfügen, das billige Arbeitskräfte und einfache, technologiearme Produkte zu Niedrigstpreisen lieferte. China wiederum beabsichtigte, fortgeschrittene Technologie zu erwerben, worauf nunmehr der Westen nach Krise und Zusammenbruch der UdSSR und des sozialistischen Lagers ein Monopol besaß. (…) Bis zu welchem Punkt hat sich dieser Wettstreit entwickelt?
(Samuel P.) Huntington (1927–2008, US-Politikwissenschaftler, jW) hatte zum Ende des 20. Jahrhunderts notiert: Wenn die in dem asiatischen Land in Gang befindliche Industrialisierung und Modernisierung Erfolg hat, dann wird »der Aufstieg Chinas zur Großmacht weit über jedem anderen vergleichbaren Phänomen der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends stehen«. Nicht ganz 20 Jahre später besteht daran kein Zweifel mehr. (…) So dass man mit Blick auf die epochalen Veränderungen in Asien schlussfolgern konnte: »Was wir erleben, ist das Ende der 500jährigen westlichen Vorherrschaft« (Niall Ferguson: Civilization. The West and the Rest. London 2011, Seite 322). (…)
Das Ende der »kolumbianischen Epoche« ist gleichzeitig der Anfang vom Ende der »großen Divergenz«, die einen tiefen Graben zwischen dem Westen und dem Rest der Welt hinterlassen hat und ersterem eine militärische Übermacht ermöglichte. Aus der beengten Sicht fortgeschrittener ökonomischer und technologischer Entwicklung erwuchs eine kulturelle Arroganz, die oftmals rassistische Züge trug. Jetzt aber bietet sich die Aussicht auf einen radikalen Wandel in der internationalen Arbeitsteilung. Und einmal mehr ist die Konfrontation auf politischer, diplomatischer und ökonomischer Ebene, bei der es darum geht, die bestehende internationale Arbeitsteilung zu bewahren oder zu ändern, selbst Klassenkampf – ein Klassenkampf um die Beförderung oder die Blockade eines Emanzipationsprozesses von planetarischen Ausmaßen. (…)
Die Verringerung der »globalen Ungleichheit« hat jedenfalls eine enorme Bedeutung. Um so mehr, als diese ein fürchterliches Zwangsverhältnis möglich gemacht hat, das bis heute nur langsam abstirbt. Schon Adam Smith hatte festgestellt, dass zur Zeit der Entdeckung/Eroberung Amerikas (und damit zu Beginn der »kolumbianischen Epoche«) die »Überlegenheit« der Europäer sich als so groß erwies, dass diese ungestraft jede Art von Ungerechtigkeit in den fernen Ländern begehen konnten. Sehr viel später richtete Hitler das Wort an die deutschen Industriellen: »Die weiße Rasse kann aber ihre Stellung nur dann praktisch aufrechterhalten, wenn die Verschiedenartigkeit des Lebensstandards in der Welt aufrechterhalten bleibt.« (…) Man müsse die Sowjetunion ins Visier nehmen, die sich »mit Hilfe der Krücken der kapitalistischen Wirtschaft« anschicke, für die Länder der weißen Rasse zum »schwersten wirtschaftlichen Konkurrenten« zu werden. In Verteidigung dessen, was wir heute »globale Ungleichheit« nennen, war Hitler bereit, einen der grausamsten reaktionären Klassenkämpfe zu entfesseln, den die Weltgeschichte je gesehen hat.
Domenico Losurdo: Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? Eine politische und philosophische Geschichte. Aus dem Italienischen von Daniel Bratanovic. Papyrossa-Verlag, Köln 2016, Seiten 350–353
Wir danken dem Papyrossa-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck
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