Mangel an Optionen
Von Reinhard Lauterbach
Die ersten Reaktionen von russischer Seite auf die teilweise Beschränkung des Warentransits in die Exklave Kaliningrad waren lautstark: Litauen habe sich »nicht nur ins Knie, sondern in den Kopf geschossen«, tönte Konstantin Kossatschow, stellvertretender Vorsitzender des Föderationsrates. Russland könne sich dies nicht bieten lassen und müsse Gegenmaßnahmen ergreifen, die »für die litauische Bevölkerung schmerzhaft« seien, twitterte Dmitri Medwedew, stellvertretender Chef des russischen Sicherheitsrates.
In Wahrheit sind die russischen Handlungsoptionen unterhalb der Eröffnung einer direkten militärischen Konfrontation mit der NATO nicht besonders groß. Litauen vom gemeinsamen Stromnetz abzuschalten ist etwas, was das baltische Land ohnehin vorhat; entsprechende Unterwasserkabel nach Skandinavien sind im Bau. Die baltischen Häfen vom russischen Warenexport auszuschließen ginge ebenfalls weitestgehend ins Leere, weil die EU den russischen Export ohnehin beschränkt hat. Und über Litauen importierten ausländischen Alkoholika in Russland die Steuerbanderolen zu verweigern grenzt ans Lächerliche.
So diskutiert Moskau in erster Linie, wie es die Versorgung des Gebiets aufrechterhalten kann. Anton Alichanow, Gouverneur des Gebiets Kaliningrad, bezifferte den Anteil der unter die Transportsperre fallenden Güter auf 40 bis 50 Prozent des Warenverkehrs in die Region, die bisher zu rund 70 Prozent auf dem Schienenweg und zu weiteren 20 Prozent mit Lkw versorgt wurde. Theoretisch wäre zwar möglich, den Transport per See auszuweiten, aber dazu fehlt es an Schiffen. Derzeit sind fünf Frachtschiffe im Gütertransit zwischen Häfen der Oblasten Leningrad und Kaliningrad unterwegs, ein sechstes soll im September in Betrieb genommen werden. Wie Wirtschaftsfachleute in Kaliningrad aber ausgerechnet haben, wären 20 Schiffe nötig, um den bisherigen Transit zu Lande vollständig zu ersetzen. Hier dürfte kurzfristig eher kein Ersatz bereitstehen, wenn auch – als Nebenfolge der EU-Sanktionen – etliche russische Frachtschiffe nun »frei für neue Aufgaben« sein könnten, nachdem sie ohnehin keine EU-Häfen mehr anlaufen dürfen.
Kurzfristig sollte Kaliningrad keine Versorgungskrise drohen. Lebensmittel fallen ohnehin nicht unter die Sanktionen, und das regierungsnahe Portal Iswestija meldete vor einigen Tagen, die Baubranche – die potentiell unter dem Transportstopp für Zement und Baustahl zu leiden hätte – habe sich rechtzeitig mit Vorräten für einige Monate eingedeckt. Als ernster schätzen russische Experten etwaige soziale Folgen: wenn etwa die Baubranche irgendwann wegen Materialmangels doch den Betrieb würde einstellen müssen und darauf traditionell kapitalistisch mit Entlassungen reagieren würde.
EU-Insider, die von Russlands starker Position in der Kaliningrad-Frage sprechen, haben in erster Linie militärische Aspekte im Blick: Das Gebiet ist Russlands Vorposten im Ostseeraum. Es ist hoch militarisiert, die Streitkräfte verfügen über moderne Raketensysteme, die der NATO auf der Ostsee im Radius von bis zu 450 Kilometern – das heißt faktisch bis an die schwedische Gegenküste – das Leben schwer machen können. Und eine weitere Option würde das westliche Kriegsbündnis zwar nicht überraschen, aber doch in der Sache unvorbereitet treffen: der hypothetische Versuch Russlands, im Handstreich das Gebiet des sogenannten Suwalki-Korridors zwischen Kaliningrad und Belarus freizukämpfen. Ein Manöver der polnischen Armee hatte im Winter 2020/21 gezeigt, dass die NATO mit den bestehenden Kräften diese Engstelle nicht würde verteidigen können.
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