»Ihr sollt alle sterben«
Von Gabriel Kuhn
Am Sonnabend fand im Berliner »Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst« ein Symposium zum Thema »Landscapes of Equality« statt, in etwa, »Landschaften der Gleichberechtigung«. Das Symposium rundete eine dreimonatige, von Kathrin Becker und Christine Nippe kuratierte Ausstellung ab, die sich »häufig übersehenen kolonialen Prozessen innerhalb Europas« widmete. Im Fokus standen unter anderem die Sámi, die indigene Bevölkerung Nordeuropas.
Samische Kunst erfährt in Europa immer größere Aufmerksamkeit. Bei der Biennale in Venedig gab es in diesem Jahr erstmals einen samischen Pavillon, ein Zeichen internationaler Anerkennung für eine Kultur, in der sich künstlerisches und politisches Engagement nur schwer trennen lassen.
Längster Programmpunkt des Symposiums war die Vorführung von »Eatnameamet – Unser stiller Kampf«, ein Dokumentarfilm der samischen Filmemacherin Suvi West. West ist, wie die Sámi sagen, auf der »finnischen Seite« Sápmis zu Hause. Als Sápmi wird das traditionelle Siedlungsgebiet der Sámi bezeichnet.
In Finnland ist West vor allem als Komikerin bekannt. Ein vor zehn Jahren im finnischen Fernsehen ausgestrahltes Satireprogramm, in dem sie mit ihrer Kollegin Kirste Aikio Finnen so stereotyp darstellte, wie sonst nur Sámi dargestellt werden, erregte großes Aufsehen. Nach eigenem Bekunden gehört Wests Leidenschaft jedoch dem Dokumentarfilm. »Eatnameamet« ist der fünfte Dokumentarfilm der 40jährigen.
Den Rahmen des Films bildet die Wahrheitskommission, die die finnische Regierung 2019 einsetzte, um die historischen Ungerechtigkeiten aufzuarbeiten, die an der samischen Minderheit begangen wurden. West folgt der samischen Schauspielerin Anni-Kristiina Juuso, die im Auftrag der finnischen Regierung Sámi trifft, um ihre Erfahrungen zu dokumentieren. Auf viel Hoffnung stößt sie dabei nicht. Bei einem Treffen in Karigasniemi/Gáregasnjárga, dem Heimatort Wests, meint ein älterer Herr: »Der Staat wird sagen, jetzt haben wir uns versöhnt – und dann bleibt alles, wie es immer war.«
Wie vieles in diesem Film wird der Satz ruhig und ohne merkbare emotionale Regung vorgetragen. Erst am Ende fließen Tränen. Der Schmerz ist freilich schon vorher zu spüren. Sámi berichten über finnische Internatsschulen, in denen sie ihre Sprache nicht sprechen durften, über Landraub und kulturelle Ausbeutung. Auch Rassismus ist ein Thema, er ist weder vergangen noch subtil. Eine samische Lehrkraft an der Universität von Oulu berichtet, dass samische Studenten ihre Identität oft verbergen würden. Wer es nicht tut, kann von Kommilitonen Sätze hören wie: »Ihr sollt alle sterben.«
West meistert herausfordernde szenische Übergänge. Bilder der dramatischen Landschaften Sápmis wechseln sich ab mit Aufnahmen kommunalpolitischer Sitzungen in sterilen Bürogebäuden, dazwischen Archivmaterial aus den 1970er Jahren oder eine Sitzung des UN-Forums für indigene Angelegenheiten.
Im Gespräch mit jW erklärt Suvi West, dass sie sich in »Eatnameamet« auf die Kolonisierung der Sámi in Finnland konzentrierte, weil sie mit dieser am vertrautesten sei, dass sich vieles jedoch auf Schweden und Norwegen übertragen ließe. Sie betont, dass sie keinen Film machen wollte, der sich nur auf die koloniale Geschichte konzentriert. Der Kolonialismus setze sich in der Gegenwart fort. Was die politischen Konsequenzen betrifft, wird sie deutlicher als im Film: »Wenn wir die Kämpfe gegen den Kolonialismus und den Kapitalismus nicht gewinnen, gibt es für unsere Kultur keine Zukunft.«
Auch in »Eatnameamet« wird betont, dass die Sámi ein friedliebendes Volk seien. Der berühmteste Dichter Sápmis, Nils-Aslak Valkeapää, erklärte einst, dass es im Samischen kein Wort für »Krieg« gebe. Nicht unbedingt friedliebend sind jedoch die Bilder eines der im Venediger Pavillon ausgestellten samischen Künstler. Anders Sunna stellt bevorzugt militante Konfrontationen mit der Staatsmacht dar, auch maskierte Sámi mit Kalaschnikows. Der Kritik begegnet freilich auch er ruhig: Die Menschen sollen froh sein, dass er all dies nur künstlerisch zum Ausdruck bringe.
»Eatnameamet – Unser stiller Kampf«, Regie: Suvi West, Finnland 2021, 74 Min.
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