Zwischen Dogma und Pragmatismus
Von Knut Mellenthin
Mit der Verabschiedung einer aus elf Punkten bestehenden Resolution hat am Sonnabend in Kabul die erste Loja Dschirga seit der Übernahme der Macht durch die Taliban im August 2021 geendet. Die können mit dem Ergebnis zufrieden sein. Die von ihnen einberufene, nur aus Männern bestehende »große Versammlung« sprach ihre Loyalität für die Taliban-Regierung aus, forderte deren internationale Anerkennung und verlangte die Freigabe von ungefähr neun Milliarden US-Dollar »eingefrorener« Auslandsguthaben des afghanischen Staats, von denen allein in den USA sieben Milliarden beschlagnahmt festliegen.
Eine Loja Dschirga ist eine traditionelle Form der Mitbestimmung in Staaten und Gesellschaften, in denen sich vorkapitalistische Strukturen erhalten haben. Die Teilnehmer, darunter Stammesführer, Repräsentanten religiöser und ethnischer Gruppen, aber auch einflussreiche Personen und bekannte Lokalpolitiker, bilden allerdings die realen Verhältnisse nicht unbedingt demokratisch ab. Auch die von NATO-Truppen gestützten Regierungen Afghanistans beriefen hin und wieder Loja Dschirgas ein und nahmen auf deren Zusammensetzung entscheidenden Einfluss. Das war allerdings bei der Versammlung von ungefähr 3.500 Männern, die von Donnerstag bis Sonnabend in der Hauptstadt stattfand, noch stärker, unverhüllter und aufdringlicher der Fall als bei früheren Gelegenheiten. Trotzdem spiegelte auch diese Loja Dschirga die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft und in deren gegenwärtig herrschendem Teil wider.
In der Resolution wird der strengen Drogenpolitik der Regierung Unterstützung ausgesprochen. Diese hatten die Taliban schon erfolgreich praktiziert, bevor sie im letzten Quartal 2001 unter Einsatz von US-Truppen gewaltsam entmachtet wurden. Danach wurde Afghanistan unter westlicher Vorherrschaft wieder globaler Rauschgiftproduzent Nummer eins. Ebenfalls unterstützt wird die erklärte Politik des »Islamischen Emirats«, wie sich der Staat jetzt nennt, sich nicht in anderen Ländern einzumischen und von diesen das gleiche zu erwarten.
Zudem verurteilte die Loja Dschirga jegliche bewaffnete Opposition gegen die Regierung als »Rebellion«. In der Resolution wird die Regierung in Kabul dazu aufgerufen, eine »religiöse und moderne« Ausbildung, Gesundheit und die Rechte von »ethnischen Minderheiten, Frauen und Kindern« zu gewährleisten. Weiter forderte die Loja Dschirga, die Regierung solle die Bemühungen um »nationale Einheit« intensivieren. Die Rückkehr afghanischer Persönlichkeiten – ehemalige Regierungs- und Verwaltungsmitglieder, Wissenschaftler und Techniker – die wegen des Machtwechsels das Land verlassen haben, solle gefördert werden. Zu diesem Ziel bekennen sich auch die Taliban. Für alle ins Exil Gegangenen sprach Taliban-Chef Mullah Hibatullah Achundsada am zweiten Tag der Versammlung eine Amnestie aus. Allein schon sein Erscheinen auf der Rednerbühne war eine Sensation. Von Achundsada gab es bisher kaum Fotos und nur wenige Tonaufnahmen. In der Öffentlichkeit trat er noch nie auf.
Aber mit dem generellen Ausschluss der Frauen nicht nur von dieser Loja Dschirga, sondern aus dem gesamten gesellschaftlichen Leben und von allen beruflichen Chancen widerlegen die Taliban ihre eigenen Bekenntnisse. Als Resultat »religiös« begründeter Zwangsmaßnahmen wurde während der Versammlung der Mangel an Akademikern und gut Ausgebildeten im Regierungs- und Verwaltungsapparat beklagt. So dürfen Mädchen keine »weiterführenden« Schulen – ab der sechsten Klasse – besuchen. Frauen sind verpflichtet, Kleidungsstücke zu tragen, die nur die Augen freilassen. Flugreisen generell und alle Reisen über 70 Kilometer dürfen sie nur in Begleitung verwandter Männer unternehmen. Bei Verstößen werden die für diese Frauen »verantwortlichen« Männer bestraft.
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