Linkszentrismus

Am 24. Oktober 2011 kommentierte jW-Redakteur Werner Pirker (1947–2014) den Erfurter Linke-Parteitag, der am Vortag das Parteiprogramm beschlossen hatte. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Programm sowie den Kommentar.
Erfurter Programm: Wir fordern die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat. Unabhängig von einer Entscheidung über den Verbleib Deutschlands in der NATO wird Die Linke in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird. Wir fordern ein sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr. Dazu gehören auch deutsche Beteiligungen an UN-mandatierten Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta (…).
Statt Aufrüstung, militärischer Auslandseinsätze und EU-NATO-Partnerschaft, also einer Kriegslogik, ist eine Umkehr zu einer friedlichen Außen- und Sicherheitspolitik notwendig, die sich strikt an das in der UN-Charta fixierte Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen hält. Die Linke setzt daher auf Abrüstung und Rüstungskontrolle, fordert ein striktes Verbot von Rüstungsexporten und den Umbau der Streitkräfte auf der Basis strikter Defensivpotenziale. Die EU und Deutschland müssen auf alle Atomwaffenoptionen verzichten, alle in Deutschland stationierten Atomwaffen müssen abgezogen und vollständig vernichtet werden. (…)
Die Linke lehnt den Umbau der Bundeswehr zu einer weltweit einzusetzenden Kriegsführungsarmee ab. Die Linke setzt sich für eine schrittweise Abrüstung der Bundeswehr ein, die kriegsführungsfähigsten Teile sollen zuerst abgerüstet werden.
Werner Pirker: Der Erfurter Parteitag der Linken hat gehalten, was man sich von ihm versprechen durfte. Es wurde ein Programm verabschiedet, das ein klein wenig über den Kapitalismus hinausweist, die Eigentumsfrage aufwirft und sich außerhalb der Logik des vorherrschenden Krisenmanagements bewegt. Auch als Antikriegspartei hat sich die Linkspartei programmatisch festgelegt. Sie ist bei ihrem Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr geblieben.
Die Parteilinke hat sich bereits im Vorfeld als Hüterin des in der Programmdiskussion zustande gekommenen Kompromisses zu profilieren versucht, was es ihr nun leicht macht, sich mit der überwältigenden Mehrheit für den Programmentwurf zu identifizieren. Ob Erfurt für die Parteilinke tatsächlich ein Erfolg war, wird sich erst noch zeigen. Der linke Flügel darf sich nur deshalb als Sieger von Erfurt wähnen, weil er sich auf zentristische Positionen zurückgezogen hat. Auf längere Sicht aber tendieren die Zentristen stets nach rechts. Das Bündnis mit dem Zentrum könnte für die Linken in der Linken von korrumpierender Wirkung sein.
So unklar es ist, ob Erfurt einen Linksruck signalisierte, so deutlich hat sich herausgestellt, dass die Parteirechte auf dem Rückzug ist. »Demokratische Sozialisten« und »Emanzipatorische Linke« wollten den Programmparteitag zur Machtprobe gestalten, das Führungsduo Gesine Lötzsch/Klaus Ernst stürzen und »Lafontaines Retroprogramm« durch ein »transformatorisches Projekt« der sozialen Beliebigkeit und abstrakten Radikalität ersetzen – ohne soziale und antimilitaristische Haltelinien. In Kampagneneinheit mit den antikommunistischen Medien erkannten sie zu spät, dass sich ihr Beliebtheitsgrad in der Parteiöffentlichkeit umgekehrt proportional zu ihrem wachsenden Ansehen in der veröffentlichten Meinung entwickelte. Sie springen nicht bloß über jedes von den bürgerlichen Medien hingehaltene Stöckchen, sondern sind meist die Urheber und Verstärker von gegen die eigene Partei gerichteten Kampagnen.
Die um die Regierungssozialisten gruppierten Parteirechten bildeten mit Rückendeckung des Karl-Liebknecht-Hauses – in aggressiver Abgrenzung zum Sozialreformismus Lafontaines – den hegemonialen Block in der Partei. Für Die Linke erwies sich die Vorherrschaft der Stöckchenspringer als desaströs. Das in Erfurt sichtbar gewordene Kräfteverhältnis zeigt, dass das Zentrum zu den rechten Zusammenschlüssen zumindest vorübergehend auf Distanz gegangen ist. Sie sind als die Hauptursache für die negative Außendarstellung Der Linken identifiziert worden. Doch ist ihr Einfluss weitgehend ungebrochen. Auch wenn Oskar Lafontaine versicherte, keine Schlupflöcher dulden zu wollen, werden sich die Einzelfallprüfer von Kriegseinsätzen immer wieder bemerkbar machen und als Einzelfallinterventionisten durchsetzen wollen. Sollten sie zum Beispiel der Meinung sein, das Existenzrecht Israels stünde auf dem Spiel.
Programm der Partei Die Linke. Beschluss des Parteitags der Partei Die Linke vom 21. bis 23. Oktober 2011 in Erfurt.
Werner Pirker: Linkszentrismus. Linke mit Erfurter Parteitag zufrieden. In: jW vom 24. Oktober 2011
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