»Warme Worte wie in Davos helfen nicht«
Interview: Kristian Stemmler
Vergangene Woche hat die EU-Kommission mitgeteilt, den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt erst nach 2023 wieder vollständig in Kraft setzen zu wollen. Die strengen Schuldenregeln sind spätestens seit der Coronakrise obsolet. Nun führen die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs das Kürzungsdiktat ad absurdum. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation?
Einige Vorschläge der EU-Kommission oder der französischen Regierung gehen in die richtige Richtung. Die Schuldenregeln dürfen wichtige Investitionen nicht behindern, etwa in den Klimaschutz, die öffentliche Infrastruktur, die Transformation der Industrie oder die soziale Sicherheit. Und es muss verhindert werden, dass Euro-Länder gezwungen sind, sich in wirtschaftlich schwierigen Phasen durch Ausgabenkürzungen tiefer in die Krise zu sparen. Zukunftsinvestitionen, Sozialausgaben und Konjunkturpolitik sollten aus der Neuverschuldung für den Stabilitätspakt herausgerechnet werden. Das wäre ein guter Anfang.
Stehen die Leute, die um ihre Gewinne fürchten, nicht auf der Bremse?
Der Widerstand gegen eine Lockerung der EU-Schuldenregeln wird seit einiger Zeit geringer. In der Vergangenheit war die Bundesregierung der wichtigste Repräsentant jener, die von den Kürzungsdiktaten profitieren. Doch schon während der Coronapandemie hatte Berlin einen Kurswechsel eingeleitet und einer gemeinsamen Verschuldung des EU-Haushalts zugestimmt. Auch bei den Industrieverbänden werden die Forderungen nach öffentlichen Investitionen lauter. Gerade das exportorientierte Kapital hat kein Interesse daran, dass EU-Binnenmarkt und Währungsunion scheitern.
Ein neuer Oxfam-Bericht zeigt: 260 Millionen Menschen sind weltweit von extremer Armut bedroht, das Vermögen von Milliardären hat hingegen deutlich zugenommen.
Diese Entwicklung ist leider nicht neu – und wird von Organisationen wie Oxfam immer wieder zu Recht angeprangert. Seit Jahren nimmt die soziale Spaltung weltweit zu, in Krisenzeiten sogar beschleunigt. Global betrachtet ist die Ungleichheit noch viel größer als in den einzelnen Staaten – mit dramatischen, tödlichen Folgen. Derzeit verschärft sich durch den Ukraine-Krieg auch die Hungerkrise. Das ist unerträglich, es muss gehandelt werden. Warme Worte wie beim Weltwirtschaftsforum in Davos oder Entwicklungshilfezahlungen, durch die die Konzerne der Geberländer mit Aufträgen versorgt werden, helfen dabei nicht.
Was halten Sie von der Oxfam-Forderung nach einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer und einer einmaligen Vermögensabgabe für Superreiche?
Sehr viel. In Zeiten multipler Krisen ist es eine Frage der Gerechtigkeit, Vermögende umfassender an den Kosten zu beteiligen als bisher. Sie müssen stärker in die Pflicht genommen werden, wenn es darum geht, öffentliche Dienstleistungen zu finanzieren oder die Krisenkosten zu tragen. Deshalb fordern wir höhere Steuern auf Gewinne und hohe Einkommen sowie eine Vermögensabgabe.
Allerdings: Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer würde sich auf den nationalen Kontext beziehen, die Vermögensabgabe kann ich mir derzeit maximal als EU-Lösung vorstellen. Was globale Ungleichheit angeht, wäre damit noch wenig erreicht. Hier braucht es mehr, beispielsweise einen umfassenden Schuldenerlass, ein knüppelhartes Vorgehen gegen Steueroasen, viel strengere Regeln und Kontrollen für global tätige Banken und eine 180-Grad-Wende in der Handelspolitik.
Also strengere Regeln und Kontrollen, aber eine gelockerte Schuldenpolitik?
Wenn man so will, ja. Die Schuldenregeln der EU wirken vor allem innerhalb des Staatenbundes, und noch mal stärker innerhalb der Euro-Zone. Sie erzeugen Kürzungsdruck und beschädigen dadurch das Renten- und Sozialsystem. Die Staaten sollen so in der Lage bleiben, die Verpflichtungen gegenüber den Finanzmärkten zu erfüllen. Das ist Umverteilung von unten nach oben. Das wiederum hat Folgewirkungen im globalen Süden, etwa wenn durch Lohn- und Steuerkürzungen die Wettbewerbsfähigkeit steigt und somit mehr Exporte aus der EU die Märkte in Afrika fluten. Oder wenn umgekehrt die geringere Nachfrage aus der EU die dortige Produktion schwächt. Der Kürzungsdruck führt auch niedrigeren Zahlungen an Hilfsprogramme, etwa zur Armutsbekämpfung.
Alexander Ulrich ist Bundestagsabgeordneter für Die Linke und industriepolitischer Sprecher seiner Fraktion
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