Neuzugänge für Kriegspakt
Von Jörg Kronauer
Es geht Schlag auf Schlag: Noch zu Jahresbeginn herrschte in Finnland und in Schweden in der Frage, ob man der NATO nun endlich auch in aller Form beitreten solle, Skepsis vor. Nur eine klare Minderheit in der Bevölkerung war dafür, die praktische Zusammenarbeit mit dem Militärpakt lief auch ohne offizielle Mitgliedschaft rund – kein zwingender Grund also, so schien es, die Dinge zu überstürzen. Der Ukraine-Krieg hat nun aber die Lage verändert. Es ist gelungen, die Stimmung innerhalb kürzester Zeit zu kippen. In beiden Ländern sprechen sich jetzt deutliche Mehrheiten für den NATO-Beitritt aus, und ihre Regierungen ergreifen die Gelegenheit. Nach allerlei vorbereitenden Maßnahmen haben in Helsinki Präsident Sauli Niinistö und Ministerpräsidentin Sanna Marin am Donnerstag einen »unverzüglichen« Schritt in das Bündnis hinein gefordert. Bereits am Montag könnte das Parlament zustimmen, und ebenfalls für Montag ist eine identische Entscheidung in Stockholm in Aussicht gestellt worden. Damit geht die historische Ära der offiziellen Bündnisfreiheit beider Staaten zu Ende.
Für die NATO bietet der bevorstehende Beitritt Finnlands und Schwedens die Chance, im Nordosten des Bündnisgebietes die Reihen zu schließen und den Druck auf Moskau konkret zu erhöhen. »Das mindeste« sei, dass Russland seiner rund 1.340 Kilometer langen Grenze zu Finnland größere Aufmerksamkeit widmen müsse, urteilte Mitte April die US-Denkfabrik Carnegie Endowment. Schließlich werde sie nun auch offiziell zu einer Grenze zur NATO. Das sei keine Einbahnstraße: Auch der transatlantische Militärpakt erhalte damit eine neue Kontaktlinie zu Russland, an der er für seine eigene Sicherheit sorgen müsse. Noch sind keine umfassenden Aufrüstungspläne an der finnisch-russischen Grenze bekannt, doch hat das Gebiet das Potential, zum Schauplatz eskalierender Spannungen zu werden.
Mit Finnlands Beitritt rückt die NATO vor allem noch näher an die russische Halbinsel Kola, zu der im Bündnis bislang nur Norwegen eine Landgrenze hat. In Seweromorsk bei Murmansk liegt der Haupthafen der russischen Nordflotte, die besondere Bedeutung besitzt, nicht zuletzt, weil ihre mit ballistischen Raketen ausgestatteten U-Boote einen Großteil von Russlands seegestützter nuklearer Zweitschlagsfähigkeit stellen. Die russischen Streitkräfte suchen die Nordflotte mit einem Bastionskonzept zu sichern, das spezielle militärische Schutzmaßnahmen umfasst. NATO-Manöver in Nordnorwegen und damit in relativer Nähe zur Halbinsel Kola sind nichts Neues. Im März und im April dieses Jahres etwa fand mit »Cold Response 22« das größte Manöver des westlichen Kriegsbündnisses in der Arktis seit Jahrzehnten statt, und Beobachter wiesen darauf hin, das Übungsgebiet sei gerade einmal 600 Kilometer von der Halbinsel Kola entfernt. In Nordfinnland ist die NATO noch näher an den Stützpunkten der russischen Nordflotte dran.
Finnland und vor allem Schweden ermöglichen es der NATO zudem, die Ostsee quasi in ein NATO-Binnenmeer zu transformieren. Nur die kurzen Küstenabschnitte um Sankt Petersburg und um Kaliningrad sind noch feindliches Territorium. Die baltischen Staaten bemühen sich, ihre militärische Zusammenarbeit mit dem Estland dicht gegenüberliegenden Finnland zu intensivieren. Schweden wiederum bringt mit Gotland eine strategisch herausragende Insel ins Bündnis ein. Von Gotland, das zentral in der Ostsee liegt, lassen sich nicht nur die Routen in den Finnischen Meerbusen kontrollieren, an dessen Ende Sankt Petersburg liegt, sondern auch die Seewege in die gut 300 Kilometer leicht südöstlich gelegene russische Exklave Kaliningrad. Schweden hat im Jahr 2015 begonnen, auf Gotland wieder Truppen zu stationieren, die es erst 2005 vollständig abgezogen hatte. 2019 gab die Regierung bekannt, man werde die Luftabwehr auf Gotland modernisieren. Auch dort ist in Zukunft die NATO unmittelbar präsent.
Wie geht es weiter, wenn Finnland und Schweden voraussichtlich Anfang nächster Woche ihren Beitrittswunsch in aller Form beschlossen haben? Dann werden, wohl in kürzester Frist, die offiziellen Beitrittsanträge gestellt. Sobald beide in Brüssel eingegangen sind, kommt der Nordatlantikrat zusammen und beschließt, die Beitrittsverhandlungen zu starten. Diese gelten als reine Formsache. Anschließend wird ein Bericht an den Nordatlantikrat erstellt; es folgt die Unterzeichnung des Beitrittsprotokolls. All dies könne voraussichtlich in zwei Wochen erledigt werden, heißt es in Brüssel. Lediglich die Ratifizierung durch sämtliche Mitgliedstaaten wird eine Weile dauern – die Rede ist von einem halben, vielleicht sogar einem ganzen Jahr.
Der einzige Schönheitsfehler im Konzept: Erst dann, also frühestens zum Jahresende, gilt für Finnland und Schweden die NATO-Beistandsklausel. Nun rechnet zwar niemand wirklich damit, dass Russland in dieser Zeit Finnland oder Schweden angreift. Dennoch legt der Pakt Wert darauf, zumindest symbolisch für alle Fälle vorgesorgt zu haben. An diesem Sonnabend kommen die NATO-Außenminister zu einem informellen Treffen mit ihren Amtskollegen aus Helsinki und Stockholm nach Berlin, um die politische Geschlossenheit der NATO zu demonstrieren. Darüber hinaus hat Großbritannien, das sich in dem erbitterten Machtkampf des Westens gegen Russland als europäische Speerspitze profiliert, Beistandsvereinbarungen mit Finnland und Schweden geschlossen – Premierminister Boris Johnson ist dazu in dieser Woche eigens nach Helsinki und Stockholm gereist. Damit ist für wirklich alle Fälle vorgesorgt: Der Aufnahmeprozess kann beginnen.
Hintergrund: Manöver im Norden
»Arctic Challenge« heißt die Manöverserie, die das NATO-Mitglied Norwegen sowie die Noch-nicht-Mitglieder Finnland und Schweden seit 2013 gemeinsam organisieren. Alle zwei Jahre werden dabei multinationale Luftoperationen in Europas hohem Norden geprobt. »Arctic Challange 21« etwa hatte drei Standorte in unmittelbarer Nähe zum Polarkreis – zum einen Rovaniemi in Finnland, zum anderen Luleå in Schweden und schließlich noch Bodø in Norwegen. Die Entfernung von Rovaniemi zum Haupthafen der russischen Nordflotte bei Murmansk beträgt Luftlinie kaum mehr als 400 Kilometer. Begonnen hat »Arctic Challenge« 2013 mit nur fünf Staaten: Außer Norwegen, Finnland und Schweden nahmen Großbritannien und die Vereinigten Staaten teil. 2021 waren schon neun Staaten vertreten, darunter die BRD. Die Bundeswehr war in Rovaniemi mit zehn »Eurofightern« und rund 200 Soldaten präsent.
Eine enge Zusammenarbeit mit den Streitkräften Finnlands und Schwedens unterhält die Bundeswehr insbesondere zur See. Die Deutsche Marine organisiert seit 2015 eine »Baltic Commanders Conference«, zu der einmal im Jahr die Marinebefehlshaber sämtlicher Ostseeanrainer zusammenkommen – Russland selbstverständlich ausgenommen. Damit zielt die Deutsche Marine auf eine engere Vernetzung aller westlichen Seestreitkräfte der Region. Diese wird auch praktisch seit Jahren geprobt, etwa im Rahmen der Manöverserie »Northern Coasts«, die seit 2007 jährlich abgehalten wird. Organisiert wird sie abwechselnd von der Bundesrepublik, Dänemark, Finnland und Schweden. Die Bundeswehr stuft sie als »wichtige(n) Bestandteil der streitkräfteübergreifenden Kooperation im Ostseeraum« ein, der speziell »der Verbesserung der strategischen Planung und taktischen Kommunikation der teilnehmenden Nationen« dienen soll. »Northern Coasts 21« fand mit 2.000 Soldaten aus 15 Staaten und 30 Kriegsschiffen vor der Küste Südschwedens statt – vor allem in den Gewässern rings um die schwedischen Inseln Öland und Gotland. (jk)
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Formsache Beitritt
vom 14.05.2022
Wir sollten auch die beiden Beistandspakte seitens des Vereinigten Königreiches und die Auftritte der beiden regierenden Damen in Suomi und Sverige bei der Sitzung des deutschen Bundeskabinetts bewerten! Gibt es da Rivalitäten zwischen London einerseits und Berlin/Paris andererseits? Was können wir zur Wallenberg-Gruppe und der Rüstungsindustrie in Schweden und zu Patria Vammas und dem finnischen Kapital sagen?
Die Eliten Schwedens und Finnlands waren seit mindestens 60 Jahren mit einem Bein in der NATO. Man nutzte den sich bietenden scheinbar günstigen Moment, um Fakten zu schaffen. Was mich am meisten empört ist, dass in einem Moment, wo die klimatische Erwärmung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, einige mächtige Kreise im Orbit der USA noch Waffengeschäfte massiv anheizen! Ist denen egal, was aus der Menschheit und aus ihren Ländern wird? Russland ist nicht die Bedrohung Europas, sondern die katastrophale Umweltpolitik ist die größte Gefahr für den Kontinent und die Welt!