Erpressbar gemacht
Von Reinhard Lauterbach
Es hat in den ersten Wochen des russisch-ukrainischen Krieges viele im Westen erstaunt, dass der russische Gastransit durch die Ukraine allen Bomben zum Trotz unvermindert weitergegangen ist. So erstaunlich war das aber nicht: Die Ukraine war nur Transitland, das aus seiner geographischen Lage einen Anspruch auf Durchleitungsgebühren ableitete. Die Ware kam aus Russland, die Bezahlung wurde aus Westeuropa erwartet.
Jetzt hat sich die Lage insofern geändert, als Kiew beschlossen hat, den Transit russischen Gases über das eigene Territorium um ein Drittel zu reduzieren. Aufhorchen lässt dabei das Argument: Wegen der Kämpfe in der Region Lugansk sei ein »ordnungsgemäßer Betrieb« einer Pump- und einer Kompressorenstation nicht mehr gewährleistet. Russland hat das bestritten. Tatsächlich spricht die Chronologie der Vorwürfe gegen die ukrainische Version, Moskau habe die Senkung der Transitmenge zu verantworten. Erst hatte Kiew von »höherer Gewalt« in Gestalt der Kämpfe berichtet, welche die Lieferung behindere, Russland hatte dies bestritten und erklärt, die Pumpstation »arbeite ungestört«. Jetzt behauptet die Ukraine das glatte Gegenteil: Gasprom habe »den Hahn zugedreht«. Offenbar in der Annahme, dass man heute Moskau für alles verantwortlich machen kann und niemand die eigenen Erklärungen vom Morgen desselben Tages nochmals liest.
Dabei wird umgekehrt ein Schuh daraus. Die Ukraine will die Wahrheit verbergen, dass sie den Gaskunden vertraglich zugesicherte Ware entzieht. Und zwar aus einem Grund, der den Abnehmerländern so egal sein kann wie die Farbe, mit der die Kompressoren angestrichen sind: ihrer eigenen Souveränität. Kiew macht die Westeuropäer zur Geisel seiner eigenen politischen Ambitionen.
Das ist genau das Szenario, zu dessen Vermeidung seinerzeit die Pipeline Nord Stream 1 gebaut wurde und das durch Nord Stream 2 weitestgehend ausgeschlossen worden wäre. Westeuropa hat sich auf Druck der USA und ihrer osteuropäischen »Partner« in diese Erpressbarkeitsfalle gebracht. Wenn es ihr das jetzt durchgehen lässt, kann die Ukraine künftig nach Belieben am Gashahn Westeuropas drehen. Dass Kiew jetzt angeboten hat, entsprechend höhere Mengen über andere Leitungen zu pumpen, ändert daran nur insofern etwas, als die Ukraine die Transitgebühren erstens dringend braucht und zweitens vielleicht irgend jemand dort gemerkt hat, dass man sich mit Renitenz im Vorfeld keine Freunde unter denen macht, die dem eigenen EU-Beitritt noch einmütig zustimmen sollen.
Genau solche Blockadesituationen sind in potenziertem Maße absehbar, wenn die Ukraine tatsächlich in die EU aufgenommen würde. Ganz abgesehen von den bis heute noch nicht einmal auskalkulierten Kosten dieses Beitritts: Er würde Kiew ein Vetorecht über alle Fragen geben, die insbesondere das langfristige Verhältnis zwischen Westeuropa und Russland betreffen. Ein Alptraumszenario.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralf S. aus Gießen (11. Mai 2022 um 21:02 Uhr)Man beachte die patriotische Bemalung der Pipeline-Technik. Dass in der Ukraine auch jedes Treppengeländer und jeder Laternenmast blau-gelb angepinselt wird, das wäre was für eine Psychologin, sieht mir nach irgendeiner Art Identitäts-Neurose aus.
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