Ohne Fahnen der Befreier
Von Annuschka Eckhardt und Marc Bebenroth
Zum steinernen Eingangstor des Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park in Berlin sind am Tag des Sieges über den Faschismus nach und nach Hunderte Menschen geströmt. Doch schon hier beginnt die diesjährige Repression. Auf einem Schild der Berliner Polizei steht eine Liste mit allem, was verboten ist: das Tragen militärischer Abzeichen, das Singen russischer oder ukrainischer Lieder, das Zeigen von St.-Georgs-Bändchen und mehr. Polizisten kontrollieren die eintretenden Personen, halten manche an und inspizieren die Kleidung. Mit Erlass der Allgemeinverfügung vom 4. Mai wurde die Versammlungsfreiheit entsprechend eingeschränkt.
»Wir sind wegen des Gedenkens an die Befreiung hier, das darf nicht mit aktuellen Ereignissen wie dem Krieg in der Ukraine vermischt werden. Sonst entsteht eine Relativierung des historischen Sieges«, sagt Stefan Natke, Landesvorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei in Berlin, am Montag am Ehrenmal im Gespräch mit junge Welt. Mehr als 7.000 der in der Schlacht um Berlin gefallenen Rotarmisten sind hier bestattet. Ein Teil des Denkmals, das Fahnenmonument, besteht aus zwei großen, aus rotem Granit gefertigten sowjetischen Fahnen. »Wir haben bei unserer 9.-Mai-Kundgebung immer die Fahne der Befreier dabei«, erklärt Natke. »Nur in diesem Jahr dürfen wir das nicht tragen.« Die kleine Fahne der Befreier auf einem Banner der Partei musste abgeklebt werden.
Im Berliner Tiergarten finden sich im Laufe des Vormittags jeweils zwischen 100 und 150 Menschen am dortigen Sowjetischen Ehrenmal ein. Leute kommen und gehen. Immer wieder legen einzelne und Gruppen Blumen an verschiedenen Stellen der Anlage ab: am Fuß der zentralen Säule, an den Haubitzen, bei den Panzern. Die übergroße Mehrheit der Anwesenden hat sich an die Auflagen der Behörden gehalten und auf Fahnen und Abzeichen verzichtet. Ein Besucher führt einen »nackten« Holzstab mit sich. Kurz nach 12 Uhr ist ein halbes Dutzend Polizeibeamte zu beobachten, die zwei ältere Frauen an den Panzersockel zur rechten Seite des Eingangs führen. Die in Rot gekleidete Frau hat mit einer roten Nelke ein Band in den Farben der Russischen Föderation am Kleid befestigt. Es kommt zur Diskussion zwischen ihr und den Beamten. Rund 1.800 Polizistinnen und Polizisten sind nach Behördenangaben im Stadtgebiet unterwegs. Allein entlang der Straße des 17. Juni sind an jeder Ecke und Wegbiegung Einheiten postiert. Auf dem Ehrenmal im Tiergarten sind zwischen 20 und 50 Beamte im Einsatz.
Mittags trifft ein größerer Gedenkumzug dort ein, dem sich geschätzt 2.000 Menschen angeschlossen haben. Sie tragen Porträts von Angehörigen vor sich her, vereinzelt werden Lieder angestimmt. Flaggen sind keine zu sehen.
In der ursprünglichen Fassung des Artikels wurde Stefan Natke fälschlicherweise als »Bundesvorsitzender« der DKP bezeichnet. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen. (jW)
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