Profitangst bei Shell
Von Gerrit Hoekman
Ben van Beurden ist sich sicher: »Es wird ein schwerer Winter werden, wenn kein russisches Öl oder Gas mehr nach Europa strömt.« Der Niederländer ist nicht irgendwer, sondern Chef des Energiemultis Shell. Er stellte auf einer Pressekonferenz am Donnerstag lakonisch fest, dass die EU große Probleme bekommen werde, den Ausfall zu kompensieren, berichtete das niederländische Financieele Dagblad.
Europa importiere bis jetzt etwa 168 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland. Wolle man diese Menge durch Flüssiggas (LNG) ersetzen, müsse man 120 Millionen Tonnen kaufen. »Das ist etwa ein Drittel des gesamten globalen LNG-Marktes. Keine einfache Lösung«, warnte van Beurden. Praktisch müsse die EU alles Flüssiggas auf dem Weltmarkt aufkaufen, das noch frei verfügbar und nicht an langfristige Verträge gebunden sei. »Ich halte das nicht für wahrscheinlich oder glaubwürdig.«
Der Konzernchef dürfte wissen, wovon er spricht. Denn die plötzlich ungeheuer große Nachfrage der EU-Antirussland-Frontstaaten hat konkrete ökonomische Konsequenzen: »Ich möchte nicht wissen, wie es sich auf den Preis auswirken würde, wenn wir es versuchen würden«, so der Shell-Boss. Zwar würden überall neue Flüssiggaskapazitäten gebaut, aber das würde in den kommenden beiden Jahre nur für etwas mehr als 30 Millionen Tonnen reichen. Deutschland, der größte Gasverbraucher in Europa, besitze zum Beispiel noch überhaupt kein Terminal für den LNG-Import.
Was den Bürgerinnen und Bürgern weiter steigende Energiekosten beschert, ist für die Multis der Branche ein prima Geschäft. Bis jetzt jedenfalls. Shell, der auf dem Papier inzwischen rein britische Ölmulti, hatte am Donnerstag für das vergangene Quartal einen Gewinn von 8,6 Milliarden Euro gemeldet, berichtete das NRC Handelsblad. Fast dreimal mehr als vor einem Jahr. Van Beurden versuchte bei der Vorstellung der Quartalszahlen den Eindruck zu vermeiden, die Ölkonzerne bereicherten sich am Elend anderer Menschen. Auch BP, Exxon Mobil und Total hatten zuletzt Rekordergebnisse veröffentlicht. Natürlich habe der Krieg (und die Sanktionspolitik) den Ölpreis noch einmal kräftig in die Höhe getrieben. Aber bereits in den Monaten zuvor habe der Preis stark angezogen. »Das ist nicht nur ein Kriegsgewinn, wie manche Leute sagen, sondern auch eine Folge der starken Leistung des Unternehmens unter anderem durch Kosteneinsparung«, behauptete van Beurden. Ganz ungeschoren kommt der Multi allerdings nicht davon: Die Aktionäre müssen eine saftige Abschreibung von 3,7 Milliarden Euro hinnehmen, weil Shell als Folge des Krieges seine russischen Vermögenswerte verkauft. Er wage keine Prognose, wann der Rückzug aus Russland abgeschlossen sei, sagte van Beurden dem Nachrichtendienst RTL Nieuws.
Noch transportiere man Öl aus Russland in die EU. »Wir sind vertraglich dazu verpflichtet, das zu kaufen«, erklärte der Konzernchef. Die Verträge sollen aber bis auf zwei kleinere noch vor Jahresende auslaufen. Dennoch: »Bei raffinierten Ölprodukten sei es praktisch unmöglich festzustellen, von welchem Ölfeld der Rohstoff stammt«, so der Shell-Vorstandschef. Er könne zudem nicht ausschließen, dass über Umwege, Indien etwa, russisches Erdöl in die EU gelangt.
Die Milliardengewinne von Shell wie auch des Konkurrenten BP führen in Großbritannien zu Diskussionen, ob eine Sondersteuer eingeführt werden soll, berichtet das Financieele Dagblad. Mit dem Geld sollen einkommensschwache Haushalte unterstützt werden, die unter den gestiegenen Energiekosten leiden. In einem Interview mit der niederländischen Tageszeitung AD fürchtete Harald Benink, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Tilburg, am Freitag die Folgen eines Energieboykotts für die EU: »Realisieren wir, dass uns das in eine tiefe ökonomische Krise stürzen kann? Die sowieso schon hohe Inflation wird durch die steigenden Öl- und Gaspreise noch höher werden.«
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