Berlin blockiert
Von Gerhard Feldbauer
Dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) dürfte ein Skandalprozess ins Haus stehen. Mit einer laut IGH-Mitteilung vom Freitag in Den Haag gegen die italienische Regierung eingereichten Klage will die Bundesregierung die in Italien vor Gericht zugelassenen Forderungen von Opfern oder deren Hinterbliebenen nach Entschädigungen für die unter dem Besatzungsregime der Naziwehrmacht begangenen Kriegsverbrechen abweisen. In der Vergangenheit war die Bundesrepublik von Gerichten in Italien mehrfach wegen deutscher Verbrechen zu individuellen »Wiedergutmachungen« verurteilt worden, die von deutscher Seite jedoch abgelehnt werden. Zur Zahlung von Entschädigungen wollen italienische Gerichte jetzt Immobilien des Goethe-Instituts, des Historischen Instituts, der Deutschen Schule und des Archäologischen Instituts in Rom zwangsversteigern.
Die BRD begründet die Verweigerungen damit, dass der Gerichtshof 2012 entschieden hatte, Berlin müsse italienische Opfer nicht individuell entschädigen. Die Zeitung Quotidiano Nazionale verweist dagegen auf ein Urteil des italienischen Verfassungsgerichts. Dieses hatte die IGH-Entscheidung am 22. Oktober 2014 zwar anerkannt, sie aber dem Grundsatz des gerichtlichen Schutzes der Grundrechte, die in der italienischen Verfassung festgeschrieben sind, unterworfen, »Opfern von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit die Möglichkeit zu geben, individuelle Rechtsbehelfe gegen souveräne Staaten einzureichen«.
Berlin argumentiert, der Richterspruch sei »in bewusster Verletzung des Völkerrechts und der Pflicht Italiens ergangen, einem Urteil des wichtigsten Rechtsorgans der Vereinten Nationen nachzukommen«. In der Klageschrift wird daher eine Verurteilung Roms gefordert, weil widerrechtlich »Zwangsmaßnahmen gegen deutsches Staatseigentum in Italien« ergriffen oder angedroht worden seien. Zudem müsse Italien für die »durch die Verletzung der Staatenimmunität entstandenen Schäden« aufkommen.
Laut der von Berlin eingereichten Klageschrift geht es um »mindestens 25 neue Klagen«, von denen in mindestens 15 Verfahren »Ansprüche gegen Deutschland im Zusammenhang mit dem Verhalten des Deutschen Reichs während des Zweiten Weltkriegs erhoben und beschlossen« worden seien. So im Fall der Ermordung von 335 Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom 1944 unter dem Kommando von Herbert Kappler, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Rom – das jüngste Opfer war 15 Jahre alt, 75 von ihnen waren jüdische Geiseln. Der zu lebenslanger Haft verurteilte Kappler floh – vermutlich mit Hilfe westdeutscher Komplizen – 1977 aus der Haft in die BRD. Die Justizbehörden verweigerten die von Rom geforderte Auslieferung.
Zu den Kriegsverbrechen, deren Opfer Entschädigungen fordern, gehören auch die der 16. Panzergrenadier-Division »Reichsführer SS« in Marzabotto in der Toskana im Herbst 1944, wo 771 Menschen ermordet wurden. Im toskanischen Sant’Anna di Stazzema ermordete die Aufklärungsabteilung derselben SS-Division unter dem Kommando von Obersturmbannführer Walter Reder auf bestialische Weise bis zu 560 Personen – unter ihnen 120 Kinder unter 16 Jahren und acht schwangere Frauen. Das jüngste Opfer zählte drei Monate, das älteste 86 Jahre. Während des Überfalls befand sich kein einziger Widerstandskämpfer in dem Dorf.
Die Mörder von Sant’Anna di Stazzema wurden wie in den meisten Fällen in der Bundesrepublik nie zur Verantwortung gezogen. Reder wurde 1951 in Bologna zu einer lebenslänglichen Haftstrafe für die in Marzabotto begangenen Morde verurteilt, für das Verbrechen in Sant’Anna wurde er jedoch mangels Beweisen freigesprochen. 1985 wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Als 2005 in Italien zehn der Verbrecher von Sant’Anna zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, verweigerte die Bundesrepublik die Auslieferung. 2012 stellte die Staatsanwaltschaft in Stuttgart die Ermittlungen gegen acht noch lebende SS-Angehörige ein. Im März 2013 besuchte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck den Ort des Massakers, wobei er von »Versöhnung« sprach, jedoch gleichzeitig behauptete, »im Fall des Massakers von Sant’Anna reichten die Instrumente des Rechtsstaates nicht aus, um Gerechtigkeit zu schaffen«.
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Welche sadistischen Verbrechen Politiker und Juristen der BRD deckten und bis heute decken, hat ein Überlebender der Kriegsverbrechen, die die 6. Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« u. a. in Sant Anna di Stazzema beging, Enio Mancini, der dem Völkermord entkam, in dem Buch des Laika-Verlages »Das Massaker von Sant'Anna di Stazzema« (Hamburg 2014), geschildert: »Schwangeren Frauen wurde der Leib aufgeschlitzt, Kleinkinder in die Luft geworfen und auf sie wie auf Tontauben geschossen, andere mit Bajonetten durchbohrt«. Von den Opfern waren 120 Kinder unter 16 Jahren und acht schwangere Frauen. Das jüngste Opfer zählte drei Monate, das älteste 86 Jahre. Die SS-Leute durchkämmten die Gehöfte und brannten die Gebäude nieder. 150 Einwohner wurden auf dem Kirchplatz zusammengetrieben und mit zwei Maschinengewehren und Handgranaten regelrecht hingeschlachtet. Die Mörder schichteten die Leichen übereinander, übergossen sie mit Benzin, zündeten sie an und verstümmelten sie bis zur Unkenntlichkeit. Nur 350 Opfer konnten später identifiziert werden.
Im statistischen Mittel wurden unter dem Besatzungsregime der Hitlerwehrmacht, ohne die gefallenen Partisanen und regulären Soldaten einzubeziehen, täglich 165 Kinder, Frauen und Männer jeden Alters umgebracht. Der barbarische Terror machte auch vor italienischen Militärs und selbst Mitgliedern der Königsfamilie nicht halt. Zu den im März 1944 in den Ardeatinischen Höhlen Ermordeten gehörten die Generäle Simoni (Held des Ersten Weltkrieges), Fenulli und Castaldi sowie der Oberst Montezemolo, die antifaschistische Positionen bezogen hatten. Um sich an König Vittorio Emanuele III., der zu den Palastverschwörern, die Mussolini im Juli 1943 gestürzt hatten, gehörte, zu rächen, ließ Hitler dessen Tochter Mafalda von Savoyen in die deutsche Botschaft in Rom locken und festnehmen. Sie wurde in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo sie ums Leben kam.
Aber die Kriegsverbrecher wurden nicht nur nicht zur Verantwortung gezogen, sondern in den Staatsdienst der BRD übernommen. Eines der unzähligen Beispiele ist der Fall des SS-Henkers von Mailand, des Gestapo-Chefs Hauptsturmführer Savaecke, verantwortlich u. a. für die Deportation von mindestens 700 italienischen Juden in Vernichtungslager. Er startete im BKA eine neue Karriere, stieg zum Regierungskriminalrat auf, wurde Leiter der Abteilung Hoch- und Landesverrat und schließlich stellvertretender Chef der Sicherungsgruppe Bonn.
Zur Chuzpe, die sich ein früherer Pfarrer Gauck, den die sogenannte Wende als Staatsoberhaupt an die Spitze der BRD spülte, leistete, sollte ergänzt werden, dass dieser jahrelang keine Skrupel hatte, Bürger der DDR, die sich nach Recht und Gesetz für ihren Staat auch auf antifaschistischen Positionen einsetzten, erbarmungslos mit allen Mitteln des »Rechtsstaates« zu verfolgen.