Von Rassismus getrieben
Von Henning von Stoltzenberg
Das Ergebnis ist alarmierend. Am Mittwoch stellte die Opferberatungsstelle »Ezra« ihre jährliche Statistik rechter Gewalt in Thüringen für das Jahr 2021 vor. Insgesamt wurden 119 rechte, rassistische und antisemitische Gewaltstraftaten im Freistaat registriert, von denen mindestens 177 Menschen direkt betroffen waren, darunter auch 27 Kinder. Das mit Abstand häufigste Tatmotiv ist demnach mit 67 Prozent der registrierten Fälle weiterhin Rassismus. 16 Prozent der Angriffe zielten auf politische Gegnerinnen und Gegner, sieben Prozent richteten sich gegen Journalistinnen und Journalisten. Die Beratungsstelle konnte im vergangenen Jahr 234 Menschen unterstützen.
Beim überwiegenden Teil der Angriffe handelt es sich um Körperverletzungsdelikte. Die meisten Attacken wurden erneut in Erfurt und Jena gezählt – fast die Hälfte der registrierten Übergriffe fand in den beiden Städten statt. In die Statistik werden die Fälle aufgenommen, die anhand fester Kriterien des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. (VBRG) festgelegt wurden. Die wiederum orientieren sich an der Definition des Bundeskriminalamts zu »politisch motivierter Kriminalität – rechts«.
»Rassistische Gewalt hat in Thüringen im vergangenen Jahr zugenommen und ist damit wieder auf dem Niveau von 2015 angekommen«, machte »Ezra«-Projektkoordinator Franz Zobel am Mittwoch in Erfurt deutlich. Demnach markierte das Jahr 2015 den Startpunkt einer Welle rassistischer Gewalt, bei der es auch zu zahlreichen Anschlägen auf Unterkünfte für Geflüchtete gekommen war. Eine aktuelle Studie der Dualen Hochschule Gera-Eisenach bestätige zudem, was Betroffene und fachspezifische Opferberatungsstellen wie »Ezra« seit Jahren sagen, so Zobel: »Rassistische Erfahrungen sind in Thüringen Alltag«, würden aber »nur ungenügend durch bestehende Statistiken erfasst«. Man habe es »mit einer enormen Dunkelziffer zu tun«. Nach der repräsentativen Erhebung der Hochschule hätten in Gera neun von zehn Befragten mit Zuwanderungsgeschichte in den vergangenen fünf Jahren Erfahrungen mit Rassismus gemacht.
Erstmals wurden auch Angriffe im Kontext der Coronapandemie als rechte Gewalttaten registriert. Insgesamt haben 14 Fälle einen solchen Bezug. Die Beratungsstelle habe »eine deutliche Zunahme von rechten Angriffen auf Journalist:innen unter anderem bei den ›Querdenken‹-Demonstrationen« feststellen müssen, »die auch Ausdruck einer jahrelangen Feindmarkierung durch extrem rechte Akteur:innen wie die AfD sind«, erklärte Opferberaterin und Soziologin Theresa Lauß in einer Stellungnahme des Vereins vom Mittwoch.
Mit Blick auf das laufende Jahr wurde darüber hinaus auf die Gefahr einer weiteren Eskalation von Rassismus wie zum Beispiel durch Terroranschläge hingewiesen. »Die Gründe dafür sehen wir insbesondere in den rassistischen Debatten in der Öffentlichkeit wie etwa über ›echte‹ und ›unechte‹ Geflüchtete, in einem weitverbreiteten Rassismus und im hohen Mobilisierungspotential der extrem Rechten«, warnte Projektkoordinator Zobel. Er attestierte der Landespolitik eindeutige Versäumnisse bei der Umsetzung von Maßnahmen gegen rechts. Das habe sich unter anderem aus den beiden NSU-Untersuchungsausschüssen und der Enquetekommission »Rassismus« ergeben. Zudem müsse auch die Mehrheit der nicht betroffenen Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Dazu zählten auch gesellschaftliche Akteure wie Unternehmen, Verkehrsbetriebe, Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände.
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