Rider kontern vor Kadi
Von David Maiwald
»Ich werde hier keine politischen Erklärungen dulden«, stellte der Vorsitzende Richter Kühn am Mittwoch vormittag zu Verhandlungsbeginn fest, nachdem der Klägeranwalt angekündigt hatte, eine Klägerin werde sich zu Wort melden. »Es kann sein, dass ich sie dann unterbreche«, stellte der Richter klar. Es sollte nicht dazu kommen.
Die auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Rechtsstreit wirkende Verhandlung von Kündigungsschutzklagen dreier Beschäftigter des Lieferdienstes Gorillas vor dem Berliner Arbeitsgericht hat eine weitreichende Bedeutung. Angesichts des bis auf den letzten Platz besetzten Zuschauerraumes im Saal 513 kam auch Richter Kühn nicht umhin, der gesteigerten Aufmerksamkeit eine Bedeutung beizumessen. »Diese Rechtsstreitigkeiten werden aus politisch motivierten Gründen geführt«, orakelte der Richter. Bei Prozessen anderer »Rider« sei das öffentliche Interesse nicht so groß. Rechtsanwalt Benedikt Hopmann konnte dem Kammervorsitzenden die Lage erläutern. »Das Interesse besteht am Streikrecht, das in der Bundesrepublik besteht«, erklärte er. Ein Urteil des Gerichts wurde nach jW-Redaktionsschluss bekanntgegeben.
Vor der Verhandlung hatten rund 30 Personen vor dem Gebäude des Arbeitsgerichts mit einer Kundgebung auf die Dimension des Verfahrens hingewiesen. Gorillas hatte die Kündigungen der drei »Rider« mit der Teilnahme an sogenannten wilden oder »verbandsfreien« Streiks (Arbeitsniederlegungen ohne gewerkschaftliche Organisierung) in Filialen des Lieferdienstes begründet. Die Beschäftigten berufen sich auf ihr Recht, mit einem Streik gegen die schlechten Arbeitsbedingungen bei Gorillas vorzugehen, auch wenn sie dabei nicht durch eine Gewerkschaft organisiert wurden – nach bisheriger Rechtsprechung in der Bundesrepublik illegal. Der Lieferdienst weiß die von befristeten Aufenthaltsgenehmigungen, Sprachbarrieren und Rassismus geprägten Lebensumstände der überwiegend migrantischen Beschäftigten in seinem Ausbeutungskonzept zu nutzen. Umstände, »in denen eine gewerkschaftliche Anbindung schwierig, langfristige Organisierung nahezu unmöglich ist«, erklärte Fahrer Fernando Bolaños am Rande der Kundgebung gegenüber junge Welt.
»Außerhalb der Bundesrepublik wäre der Streik bei Gorillas ein ganz normaler Arbeitskampf gewesen«, erklärte Rechtsanwalt Hopmann am Mittwoch im jW-Gespräch. Hierzulande existiere das »rückständigste und restriktivste Streikrecht Europas«. Tatsächlich basiert das Verbot politischer Streiks auf dem Gutachten des Arbeitsrechtlers mit Nazivergangenheit Hans Carl Nipperdey. Vor der Kammer argumentierte Hopmann, gemäß der von der Bundesrepublik ratifizierten Europäischen Sozialcharta seien kollektive Arbeitsniederlegungen auch ohne gewerkschaftlichen Aufruf und ohne tarifliches Ziel zulässig. Der Vorsitzende Richter Kühn wollte die Kündigungsschutzklagen der »Rider« nicht mit der Frage des Streikrechts in der Bundesrepublik in Zusammenhang bringen. Es sei »irritierend«, »hier auf dem Rücken von Arbeitnehmern einen politischen Diskurs zu führen«, äußerte er während der Verhandlung. Auch der Anwalt von Gorillas zeigte sich unisono: »Auf keinen Fall« solle in diesem Prozess das Streikrecht »auf links gedreht werden«. Die beabsichtigte Erklärung von Fahrerin Duygu Kaya ließ der Vorsitzende Richter zum Ende der Verhandlung – als »losgelöst vom Sachverhalt« bezeichnet – nicht zu.
Der Prozess gehe weit über die Frage hinaus, ob die individuelle Kündigung rechtmäßig war oder nicht, sagte Rechtsanwalt Hopmann im jW-Gespräch: »Wenn die Kündigung rechtswidrig war, war der verbandsfreie Streik erlaubt.« Werde das Gericht dies anders sehen, will man in Berufung gehen. Der Prozess sei »hoffentlich der Beginn einer Diskussion und Auseinandersetzung um das Streikrecht in der Bundesrepublik«, so Hopmann. »Was am Anfang einige Standorte und Beschäftigte von Gorillas betraf, ist zu etwas Größerem geworden, was auch die deutsche Verfassung betrifft«, erklärte Fahrerin Duygu Kaya gegenüber dieser Zeitung: »Was hätten wir anderes tun sollen, als zu streiken?«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralf S. aus Gießen ( 7. April 2022 um 10:12 Uhr)Aus welcher Klasse der Richter wohl stammt?
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