»Wir haben mit 27 Millionen Menschenleben bezahlt«

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte am 27. Februar im Bundestag die finanziell umfangreichste Aufrüstung in der Geschichte der Bundesrepublik an und bekräftigte den am Vortag verkündeten Beschluss seiner Regierung, Kriegswaffen an die Ukraine zu liefern. Noch am selben Tag veröffentlichte das in Moskau ansässige »Spirituelle Zentrum St. Johannes von Kronstadt« der Russisch-Orthodoxen Kirche auf seiner Internetseite unter der Überschrift »Die Tragödie in der Ukraine« einen Brief von »Veteranen und Kindern des Großen Vaterländischen Krieges an die Regierung und das Volk Deutschlands«.
Am 6. März verlinkte der Russische Veteranenverband auf seiner Website den Brief und erklärte, er unterschreibe »jedes Wort des Aufrufs«. In dessen Vorspann heißt es: »Heute, da die deutsche Regierung beschlossen hat, tödliche Waffen an die Ukraine zu liefern, hat sich die Welt verändert – die Umrisse eines neuen Weltkrieges sind mehr als deutlich sichtbar. Und wieder einmal ist es Deutschland! Aber es gibt ehrliche Menschen in Deutschland, Antifaschisten, und wir hoffen, dass diese Botschaft bei ihnen ankommt. Menschen, die zwischen 1927 und 1945 geboren wurden, haben in Russland den Status von ›Kriegskindern‹. Dieser Brief kann von all jenen unterzeichnet werden, die diesen Krieg überlebt haben.« Wir dokumentieren den Text des Briefes:
Die Tragödie in der Ukraine
Wir, die letzten Veteranen und alle aus den Völkern Russlands, die diesen großen und schrecklichen Krieg überlebt haben, stehen heute an der Schwelle zum Tod. Unsere Zeit wird knapp. Den größten Teil unseres Lebens hofften wir, dass es in Frieden zu Ende geht – ohne den alles zerstörenden Hass. Nach dem Zweiten Weltkrieg überwanden wir mühevoll, über lange Jahrzehnte hinweg, unseren gerechten Zorn. Wir sehnten uns nach Vergeltung für die zahllosen geistigen und körperlichen Wunden, die wir immer noch an unseren Körpern und in unseren Herzen tragen. Aber die meisten von uns haben verziehen!
Das geschah nicht zuletzt aus dem Grund, dass Deutschland viele Jahre lang seine Reue, seine Einsicht in das Geschehene zeigte. Und wir haben nicht nur uns selbst überwunden, sondern auch die Stimme des Blutes unserer barbarisch ausgerotteten Angehörigen. Ausgerottet von wem? Von den Deutschen, von den Faschisten! Wir haben verziehen – den Gesetzen des menschlichen Zusammenlebens entsprechend. So war es – bis 2014.
Ströme von Blut
Dann, im Jahr 2014, als alles in der Ukraine begann, blickten wir hoffnungsvoll nach Deutschland und auf die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wir hätten uns nicht vorstellen können, dass die Deutschen nach allem, was sie in der Ukraine angerichtet hatten – nach Babi Jar (ukrainisch: Babyn Jar, jW), nach den Bergen verstümmelter Leichen –, immer noch voller Begierde auf die ukrainischen Felder schauen würden, die auch heute noch Europa ernähren können. Oder dass sie, die Deutschen, die auch die ihnen einst versprochene Krim mit Blut getränkt hatten, heute noch ein Interesse daran haben, die Krim zu einem amerikanischen und insgesamt zu einem NATO-Stützpunkt zu machen – ideal für Angriffe auf Russland. Das wäre offen auf einen zukünftigen Krieg ausgerichtet. Denn nur Dummköpfe verstehen den Sinn und Zweck des ganzen Umsturzes in der Ukraine nicht, bei dem sich Russland auf die einzig mögliche Weise verhalten hat!
Aber die Deutschen, sie sind keine Dummköpfe. Wir Russen kennen aus erster Hand Ihre Psychologie als »Blutsbrüder« – unser Blut, das Sie »kalkuliert« in Strömen vergossen haben. Wir erinnern uns an Ihre »systematischen« Methoden zur »Bevölkerungsreduzierung«. Unserer Bevölkerung! Bis heute finden wir in verschiedenen Ecken unseres einst geeinten Vaterlandes, wohin der Stiefel des deutschen Faschismus kam, versteckte Massengräber unserer friedlichen Bürger: in der Region Nowgorod, im Kuban, in der Region Rostow, in Karelien. In Belarus wurden 2021 in Brest auf dem Gelände des jüdischen Ghettos die Überreste Hunderter friedlicher Bürger gefunden. Das Konzentrationslager Trostenez in der Nähe von Minsk – Ort einer furchtbaren Tragödie – hat das Geheimnis Zehntausender weiterer gefolterter und ermordeter Menschen aufgedeckt. Wir sprechen hier von Zehntausenden neu entdeckten Opfern des Nazismus! Dieses Blut schreit noch immer nach Vergeltung, während seit Jahrzehnten das Andenken an barbarisch ermordete russische Menschen und die Denkmäler für russische Soldaten, Befreier, ungestraft geschändet werden. Neue Nazis marschieren im Baltikum und in der Ukraine vor den Augen der gesamten »zivilisierten« Welt.
Und wieder Deutschland
Aber 2014 waren wir wirklich davon überzeugt, dass die Deutschen angesichts dieser neuen Naziaufmärsche unsere Verbündeten bei der Verhinderung solcher Abscheulichkeit werden. Wir hofften, dass sich die Deutschen – von einem elementaren Gewissen geleitet – nicht an dem offen faschistischen Staatsstreich in der Ukraine beteiligen würden. Schließlich wurde die auf ihn folgende Katastrophe der heutigen Ukraine von den direkten Nachkommen derjenigen herbeigeführt, die in der deutschen Armee ein besonderes Gesindel waren. Offen, unverblümt! Die US-Amerikaner und Kanadier haben dieses teuflische Erbe lediglich verheimlicht und bewahrt, haben dessen Nachkommenschaft aufgezogen, aber die Brutstätte dieses Übels ist – Deutschland! Hitlerdeutschland! Wir vermochten nicht zu glauben, dass es Deutschland war, das diesen Unmenschen aufs neue den Weg weisen würde. Aber wir haben uns getäuscht! Deutschland hat diesem faschistischen Abschaum erneut Einlass in die Welt gewährt.
Die Unterstützung des heutigen Deutschlands – angesichts der neuen Regierung der Ukraine – für die Bandera-Leute, für die Erben der SS-Division »Galizien«, für UPA- und OUN-Schläger (die Ukrainische Aufstandsarmee UPA existierte von 1942 bis 1956, sie kämpfte zuerst an der Seite der Wehrmacht gegen die Rote Armee und polnische Partisanen, nach 1945 mit westlicher Unterstützung gegen die Sowjetunion; die Organisation Ukrainischer Nationalisten OUN wurde 1929 gegründet. Nach einer Spaltung stellte der von Stepan Bandera geführte Teil 1942 die UPA auf, jW) und alle anderen Abscheulichkeiten waren für uns einfach undenkbar.
Das übersteigt alles Menschliche! Aber Sie, Deutschland, haben es getan und tun es weiterhin! Sie haben es wieder auf die slawische Welt abgesehen, und dieser Abschaum – er ist Blut vom Blut des deutschen Nazismus! Und erneut gegen Russland! Nur heimtückischer: Gegen uns werden unsere engsten Brüder, die Ukrainer, aufgehetzt. Und Sie wissen das! Sie wissen es genauso, wie wir es wissen! Sie haben in diesem Großen Krieg ein Volk ermordet! Ja, wir sind ein Volk! Die Wahrheit schreibt und sagt oft Ihr Steinmeier, der zugleich hinterhältig direkt am Kiewer Putsch von 2014 beteiligt war – einem dem Wesen nach faschistischen Putsch. Für die Amerikaner mag das nicht klar sein, aber für Sie ist es mehr als klar!
Und es sind Ihre Zöglinge, die ihre Fackelzüge durch Kiew veranstalten konnten. Der lebendige Schatten Nazideutschlands steht hinter all dem. Das wurde nur zeitweilig durch eine verschlagene Diplomatie vertuscht – »Helme statt Gewehre«. Aber das war’s, die »Masken sind gefallen«. Dass Sie heute deutsche Waffen an die Ukraine liefern, ist folgerichtig, es liegt in der Logik Ihrer Politik der letzten Jahrzehnte. Sie ist heute wieder offen profaschistisch. Sie haben diesen Schritt getan: Deutsche Waffen werden wieder Russen töten. Das Töten setzt sich fort.
Vorbereitung auf Weltkrieg
In den Jahren des Konflikts im Donbass haben Ihre professionellen Mörder schon Russen getötet, lehrten zumindest, »wie man sie richtig umbringt«. Nur ist es jetzt noch abscheulicher – Sie bringen es Blutsbrüdern bei. Der Donbass liegt auf Ihrem Gewissen! Tausende Leben seiner friedlichen Bürger – das ist erneut Ihr Werk. Uns wühlt nicht auf, welche Rolle die Amerikaner bei all dem spielen: Dort ist Geld Gott!
Uns Veteranen dieses Krieges, seine Kinder, wühlt die Rolle der Deutschen auf. Denn Sie sind es, die genau wissen, aus wem die ukrainischen »Nazibataillone« bestehen, und wer diesen neuen Faschismus hätte verhindern und stoppen können. Aber das haben Sie nicht getan! Allein deswegen sind Sie erneut vor der Geschichte verantwortlich. Sie sind eindeutig an der Vorbereitung der Ukraine auf einen Krieg mit Russland beteiligt. Sie können nicht umhin, den Zweck all dessen zu verstehen, was geschehen ist: vom verfassungswidrigen Staatsstreich in Kiew bis zum Blutvergießen im Donbass.
Im wesentlichen geht es um die Vorbereitung auf den dritten Weltkrieg. Und wieder einmal um Sie, die Deutschen … Deutschland. Von der hohen deutschen Tribüne in Berlin hören wir heute: »Russland wird einen hohen Preis zahlen!!!« Eine Rede des Kanzlers von Deutschland! Undenkbar! Wir haben den Preis bereits bezahlt: 27 Millionen unserer Menschenleben. Genügt Ihnen das nicht?! Über welchen Preis reden Sie noch? Es gibt kein Haus in Russland, der Ukraine und Belarus, in dem »dieser Preis« nicht gezahlt worden wäre. Und es gibt kein Haus in Deutschland, das nicht an dieser furchtbaren blutigen Barbarei teilgenommen hat! Schrecklich! Bestialisch!
Heute sind bereits mehr als 13.000 Russen im Donbass durch die Hände der neuen Nazis gestorben. Die öffentliche Verhöhnung des Völkermordes an den Russen im Donbass durch den deutschen Bundeskanzler ist selbst ein Verbrechen. So weit können Lektionen der Geschichte vernachlässigt und entweiht werden! Die schrecklichste Geschichte der Welt! Wollen Sie es noch schlimmer? Dieser neue »Drang nach Osten« kann dazu führen, dass es keinen zweiten Nürnberger Prozess gegen Sie geben wird, weil es einfach keine Menschheit mehr geben wird. Sie werden nicht mehr da sein!
Aber ein besonderes Gericht, ein universelles Gericht über Sie, Deutsche, ist unausweichlich. Über alle Aggressoren, aber über Sie besonders. Der Welt wird Gerechtigkeit widerfahren! Und wir, die letzten Veteranen dieses schrecklichen Krieges, verlassen diese Welt als Zeugen. Als Zeugen der Anklage! Und heute wird der Sieg unser sein, aber diejenigen, die gestern gestorben sind, oder diejenigen von uns, die heute sterben, legen Zeugnis von der Rolle des deutschen Volkes in der Menschheitsgeschichte der Welt ab – der blutigen Geschichte. Deutsche Waffen sind wieder in den Händen junger Nazitypen!
Haltet ein!
Übersetzung aus dem Russischen: Arnold Schölzel
Die junge Welt online lesen
Die Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist in der Friedensfrage oder zu Sozialabbau anders. Sie liefert Fakten, Hintergrundinformationen und Analysen. Das Onlineabo ist ideal, zum recherchieren und informiert bleiben. Daher: Jetzt Onlineabo abschließen!
Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:
Ähnliche:
- REUTERS/Alexander Ermochenko24.03.2022
Belagerer unter Druck
- Emeric Fohlen/NurPhoto/ZUMA Press/imago19.03.2022
Nicht dialog-, nicht friedenswillig
- REUTERS/Alexander Ermochenko18.03.2022
Vergessene Front
Drittens aber sah ich sie angesichts ihrer heroischen Befreiungstat von Herzen auch nur als wirkliche Freunde und Garantie für den Frieden angesichts der waffenstarrenden NATO auf der anderen Seite. Davon verstand ich etwas: Reagans Sternenkriegspläne konnte ich im Detail erläutern und auch die Sprengkraft eines »Trident«-Atom-U-Boots der USA war mir geläufig – 2.400 Hiroshimabomben in etwa – und über 50 solcher Boote davon schwammen in den Meeren. Die Sowjetunion hatte ein äquivalentes Potential – und das war nur ein „Marineanteil“ des atomaren Wahnsinns. Es gab also wirklich ein Gleichgewicht des Schreckens.
Dass angesichts des erlittenen Zweiten Weltkrieges, in dem die sowjetischen Völker kriegsentscheidend siegten, dass diese Völker einander feindlich gesinnt sein könnten – undenkbar. Und hier ist der Fehler – die Völker haben gar keine Feindschaft – auch heute nicht. Sie können wunderbar miteinander auskommen, ihre Kulturen austauschen, sich im Wettstreit in allem messen, einander besuchen und ihre Landschaften und Sehenswürdigkeiten teilen. Sie könne sich helfen und die Vorteile der anderen nutzen, die selbst aus zum Beispiel klimatischen oder anderen Gründen sonst nicht zu haben sind. Alle Ressourcen sind teilbar und alles reicht für alle.
Doch in den 90er Jahren »kam« die »Demokratie« des »freien Marktes« und es wurden Grenzen gezogen, waffentechnisch bewehrt und undurchlässig oder dicht gemacht. Und Millionäre und Milliardäre bestimmen seitdem, was wirtschaftlich ist, ließen ihre Vertreter in die Parlamente ziehen und die Nation bzw. »Werte« wurde wichtiger als alles andere. Und die Unwerte, Hunger und Elend, zogen ein. Der noch nicht bewältigte Mangel aus der Sowjetzeit wurde bei nicht wenigen plötzlich oder immer mehr zum Segen einer verflossenen Zeit. In anderen osteuropäischen Ländern verhielt es sich ähnlich.
Die Köpfe wurden verdreht und Menschen können, wie ehedem bis 1945, gar nicht fassen, was andere »Völker« plötzlich »Schlimmes« machen, glauben es aber. Das war in Jugoslawien so und dann auch zwischen den nunmehr ehemals sowjetischen Völkern – nicht bei allen allerdings. Vergessen hatten sie die Lektion vom »Oben und unten« und merkten nicht, wie sie dazu gebracht wurden, sich für ein »Oben und unten« zu entscheiden, merkten zwar mehr oder weniger, wie sie »unten« ankamen, dann aber nicht, wie die »unten« auf die anderen »unten« gehetzt wurden.
Und auch die Europäer, denen nach allen Regeln der modernen Kunst der Gehirnwäsche zu verstehen gebracht wurde, dass am besten nie wieder Sozialismus überhaupt nur gedacht wird, weil diese »Diktatur«, sie nannte sich ja selbst so (!), ersichtlich an sich selbst gescheitert sei und die Völker diese nicht wollten und nicht bräuchten. Freiheit und Demokratie – frei zu morden, zu rauben, auszubeuten und demokratisch, also manipuliert und entrechtet zu sein, das sei die einzige Alternative, das Ende der Geschichte.
Wenn ich in früheren Zeiten in der DDR klarzumachen versuchte, warum das »Schaufenster BRD« so viel besser aussieht als bei uns, habe ich auf die Länder der Dritten Welt verwiesen, wo fehlt, was hier im Überfluss billig für jedermann angeboten wird. Heute kann man das deutlich, auch »bei uns« erkennen. »Uns«, wir, das ist auch so eine falsche Formulierung – »Wir« müssten »Verantwortung« übernehmen: Es sind deren Staaten, jeder ein Überbau, der die Völker einhegt in die Verhältnisse der Ausbeutung und nach Belieben gegeneinander hetzt, mit deren Armeen und kämpfen lässt, mit Waffen, die die Völker teuer bezahlen, statt den Hunger auf der Welt zu tilgen, bezahlen auch mit dem Leben der Jugend der Völker. Ach, wenn die Völker doch endlich wieder die richtigen Signale hören würden und auch zu hören bekommen. Ach, wenn »Linke« doch links wären.
So steht es auch in Artikel 26 des Grundgesetzes. – Das Problem ist nur, das Grundgesetz wurde illegal außer Kraft gesetzt.
Mein Großvater war während der NS-Zeit aktiv gegen Kriegsvorbereitungen, verbrachte dafür, „wegen Vorbereitung zum Hochverrat“, einige Jahre im Zuchthaus. Ich war stolz, dass er nicht als Akteur oder Mitläufer Mitschuld am Krieg zu verantworten hatte.
Damit sich auch meine Enkel nicht schämen müssen, vertrete ich eine pazifistische Einstellung.
Als Stammwähler der Grünen war ich schockiert, als diese Partei im Irak-Krieg die Friedensbewegung unterwanderte. Daraus habe ich meine Lehren gezogen, keine Aufrüstungsbefürworter gewählt, mit gutem Gewissen. Dieses gute Gewissen wünsche ich allen.