Kult der Differenz
Von Götz Eisenberg
In den letzten Tagen gerieten die Alt-SPDler Wolfgang Thierse und Gesine Schwan unter Beschuss. Seit Tagen liegt der Artikel von Thierse auf meinem Tisch, den dieser am 22. Februar unter der Überschrift »Wieviel Identität verträgt die Gesellschaft?« in der FAZ veröffentlicht hat. Darin äußert der Sozialdemokrat die Sorge, dass eine radikalisierte Identitätspolitik langfristig zu einer Spaltung der Gesellschaft führe. Ich habe den Text mit weitgehender Zustimmung gelesen und kann die Aufregung um seine Thesen nicht nachvollziehen. In einem Gespräch, das der Deutschlandfunk (DLF) am 25. Februar mit Thierse geführt hat, hat er seine Thesen noch einmal erläutert. Auch seine dortigen Ausführungen sind durchaus diskussionswürdig und gehören nicht auf den Index.
Besonderes und Allgemeines
Nun lese ich in der FAZ vom 4. März, dass Thierse der SPD seinen Parteiaustritt angeboten hat, nachdem prominente Repräsentanten der Partei wie Saskia Esken und Kevin Kühnert ihn wegen angeblich rückwärtsgewandter und schädlicher Äußerungen gemaßregelt und sich seinetwegen »zutiefst beschämt« gezeigt hatten. Was ist das für eine Kategorie in diesem Kontext? Hat Herr Thierse eine obszöne Geste oder Bemerkung gemacht? Hat er das Willy-Brandt-Haus mit geöffnetem Hosenstall betreten? Jürgen Kaube kommentierte in der nämlichen Ausgabe der FAZ treffend: »Zu sagen, man schäme sich für jemand, ist eine starke Form moralischer Missachtung. Es muss ihr, soll sie sinnvoll eingesetzt werden, eine schlimme Verfehlung vorangegangen sein. Denn zu sagen, man schäme sich, teilt ja zugleich mit, dass es gar keine Möglichkeit der Diskussion mehr über das gibt, was nur noch zum Beschämtsein Anlass gibt. Es ist beinahe und zumindest, was den Gegenstand betrifft, eine Abschiedsformel. Darüber, sagt sie, kann man nicht reden.«
Zunächst sprang nur Gesine Schwan ihrem Altersgenossen und langjährigen Weggefährten bei und verteidigte seine Thesen in einem Artikel, der unter der Überschrift »Wider das Gift kollektiver Identität« am 27./28. Februar in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. Auch Ralf Stegner und einige andere führende Sozialdemokraten haben sich unterdessen solidarisch erklärt. Olaf Scholz, so ist zu hören, versucht eine Schlichtung. Wenn die SPD es zulässt, dass auf solche Weise mit verdienten Parteimitgliedern verfahren wird, wirft sie noch ein paar Schaufeln Erde auf ihren eigenen Sarg, nachdem sie sich bereits durch langjährigen Verzicht auf linke Politik selbst ihr Grab ausgehoben hat. Wenn die Partei es nicht hinbekommt, den Einsatz für Minderheitenrechte mit dem Einsatz für die Interessen der arbeitenden Klasse zu verbinden, hat sie in der Tat ihre politische Existenzberechtigung verwirkt. Dazu ist wesentlich, das Gemeinsame all dieser zerstreuten Intentionen zu suchen und zu betonen, statt den jeweiligen Partikularinteressen zu erlauben, sich zu allgemeinen Interessen aufzuspreizen.
Thierse und Schwan haben vollkommen recht, wenn sie darauf hinweisen, dass eine Politik, die das Gemeinwohl im Blick hat, auf die Fähigkeit bauen muss, »das Eigene in Bezug auf das Gemeinsame« zu denken und zu praktizieren, und nicht die je eigene Befindlichkeit in den Mittelpunkt stellen darf. Thierses Kernsatz im Gespräch mit dem DLF lautet: »Aber unsere Tradition seit der Aufklärung ist doch die, nicht die Betroffenheit, nicht das subjektive Empfinden darf entscheidend sein, sondern das vernünftig begründende Argument, das muss uns miteinander verbinden, das muss den Diskurs strukturieren.«
Identitätspolitik betont das je Besondere und damit das Trennende, statt im Besonderen das Allgemeine herauszuarbeiten und damit das Verbindende zu betonen. Identitäten sind notwendigerweise partikular und verneinen sich gegenseitig: »Gott sei Dank, bin ich nicht so wie dieser da!« Wer nicht sichtlich meinesgleichen oder unsereiner ist, dem kann das Mitgefühl verweigert werden. Je enger und privater Identität gefasst wird, desto idiosynkratischer und störanfälliger wird sie. Deswegen lässt Identitätspolitik ein hysterisches gesellschaftliches Klima entstehen, in dem tendentiell jeder und jede ständig gekränkt und beleidigt ist und beim anderen bekämpft, was ihm oder ihr selber fehlt. Ich meine, es ist Matthias Beltz gewesen, der die Anfänge der linken Identitätspolitik, die damals allerdings noch nicht so hieß, mit der Frage kommentierte: Warum müssen die Erniedrigten immer gleich beleidigt sein?
Vermintes Gelände
Auseinandersetzungen um Identität und politische Korrektheit sind beileibe keine Spezialität der SPD, sondern prägen mehr und mehr die Debatten innerhalb des gesamten linken Spektrums. Im evangelischen Magazin Chrismon, das einmal im Monat verschiedenen Tageszeitungen beiliegt, stoße ich auf einen Artikel über die Lage im hessischen Dorf Dannenrod nach dem Ende der Besetzung des benachbarten Forsts durch Umweltschützer. Aus der Perspektive verschiedener Menschen wird berichtet, welche Spuren die Auseinandersetzungen um das inzwischen gerodete Waldstück in dem kleinen Dorf und der näheren Umgebung hinterlassen haben. Das Gasthaus »Jakob« war das Hauptquartier der Waldbesetzer. Dort konnten sie sich aufwärmen, duschen, ihre Handys aufladen und an Onlinevorlesungen teilnehmen. Ingrid Süßmann hat das Gasthaus vor einigen Jahren übernommen und es für die Aktivisten geöffnet, was ihr im Ort nicht nur Sympathien eingebracht hat. Da zwei Drittel der Dorfbewohner gegen den Weiterbau der Autobahn 49 und die damit verbundene Rodung des Waldes sind, hielt sich der Gegenwind aber in Grenzen. Sie selbst teilt die Anliegen der Aktivisten und hält zivilen Ungehorsam für nötig und legitim. Einmal, erzählt sie, hätten Aktivisten im Gasthaus an den Toiletten die Schilder D und H für Damen und Herren mit Papier überklebt. Als sie fragte, warum sie das getan hätten, wurde ihr mitgeteilt, es gebe nun mal mehr als zwei Geschlechter. »Es kann doch nicht sein, dass ihr euch an zwei Buchstaben aufhängt!« habe sie erwidert und gelacht.
Ich halte dieses Lachen für eine angemessene Reaktion. Ich lachte ebenfalls, als ich bei einem Rundgang durch den noch besetzten Wald eingangs eines der von den Besetzern errichteten Barrios auf ein Schild stieß, auf dem sinngemäß stand: »Wenn du dich als Mann definierst, betritt diesen Ort bitte nicht.« Sicherheitshalber drehte ich um und nahm einen anderen Weg. Beim weiteren Nachdenken verging mir das Lachen allerdings. Was ist daran so bedrohlich, wenn einer sich als Mann begreift, dass man ihm Hausverbot erteilen muss? Heißt Mannsein automatisch, dass man all das diskriminieren und ausgrenzen muss, was man nicht selber ist? Dass das allzu oft geschehen ist und sicher auch noch immer geschieht, bestreite ich nicht, aber kann man nicht bei männlichen Besuchern in einem besetzten Wald erst einmal davon ausgehen, dass sie souverän genug sind, sich solche einschnappenden Reflexe zu verbitten? Auch wenn ich mich für eine bestimmte Geschlechtsrolle entschieden habe, heißt das ja nicht automatisch, dass ich keine anderen Varianten zulassen kann. Warum diese allergischen Reaktionen? Weil man sich seiner selbst nicht sicher ist, ist meine Vermutung. Wäre man das, könnte man den oder die andere gelassen ertragen, und man fühlte sich nicht durch andere Entscheidungen gleich grundsätzlich in Frage gestellt und angegriffen. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, mich auf vermintem Gelände zu bewegen. Eine gendermäßig oder politisch nicht korrekte Bemerkung, ein falscher Satz, und man fliegt auf und gibt sich als Ewiggestriger, borniert oder gar als queerfeindlich zu erkennen.
Ich kapiere nicht, wie man auf solche Nebenkriegsschauplätze derart viele kognitive und emotionale Energien verschwenden kann. Was wäre denn gewonnen, wenn jeder jeden gendergerecht anspricht und im Gasthaus ein ganzer Flur mit Toiletten für jede noch so winzige Community existierte? Vielleicht ist es so, dass den Genderfanatikern die Aufregung über sprachliche Ungerechtigkeiten, deren Existenz ich nicht bestreite, das Erschrecken über die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft erspart. Sie leben großenteils in Bezirken der privilegierten Entfremdung und können es sich leisten, ihre Zeit mit solchen Problemen zuzubringen. Aber ich bin eben ein altlinker weißer Mann mit einer heterosexuellen Orientierung und verstehe wahrscheinlich vieles nicht mehr. Ich begreife mich selbst als einen prozessierenden Widerspruch, als eine Kontinuität von Brüchen. »Jeder Mensch«, heißt es bei Györgi Konrad, »besitzt mehrere Identitäten. Schwört er auf die eine, erstickt er alle anderen.« Oder, noch mal anders ausgedrückt: Nur der, der behauptet, er habe eine einfache, eindeutige, klare Identität – hat ein Identitätsproblem. Es ist jedenfalls keine denk- und diskussionsfördernde Atmosphäre, wenn man ständig Angst haben muss, danebenzukleckern. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Den jungen Leuten, die ein Jahr den Wald besetzt hielten, Mut und Ausdauer bewiesen haben, zolle ich großen Respekt. Und ich teile ihre Grundanliegen, die Naturzerstörung zu stoppen und nicht noch mehr Bäume für den Autobahnbau zu opfern und weiteren Boden unter Asphalt verschwinden zu lassen. Ich habe meine Sympathien in einem Artikel für den Gießener Anzeiger vom 1. Oktober 2020 und in Teil 12 meiner bei der GEW Ansbach erscheinenden »Durchhalteprosa« zum Ausdruck gebracht.¹
Selbstidentisch ohne Glück
Über die Gereiztheit, die sich auf dem Feld der Identitätspolitik ausbreitet, hat sich Friedrich Nietzsche unter der Überschrift »Selbstbeherrschung« in der »Fröhlichen Wissenschaft« geäußert. Ich zitiere ihn, obwohl ich ahne, dass auch das Zitieren von Nietzsche eigentlich nicht mehr zulässig ist. Hat der sich nicht auch mal frauenfeindlich geäußert? Ja, hat er, und nicht nur ein Mal. Aber eben nicht nur das. Es gibt auch einen anderen Nietzsche, dem wir jetzt mal einen Moment zuhören möchten: »Jene Morallehrer, welche zuerst und zuoberst dem Menschen anbefehlen, sich in seine Gewalt zu bekommen, bringen damit eine eigentümliche Krankheit über ihn. Nämlich eine beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und Neigungen und gleichsam eine Art Jucken. Was auch fürderhin ihn stoßen, ziehen, anlocken, antreiben mag, von innen oder von außen her – immer scheint es diesem Reizbaren, als ob jetzt seine Selbstbeherrschung in Gefahr gerate: Er darf sich keinem Instinkte, keinem freien Flügelschlag mehr anvertrauen, sondern steht beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaffnet gegen sich selber, scharfen und misstrauischen Auges, der ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht hat. Ja, er kann groß damit sein! Aber wie unausstehlich ist er nun für andere geworden, wie schwer für sich selber, wie verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele! Ja auch von aller weiteren Belehrung! Denn man muss sich auf Zeiten verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht selber sind, etwas ablernen will.« Die Kurzfassung dieser Passage hat Theodor W. Adorno so formuliert: »Was bloß identisch ist mit sich, ist ohne Glück.«
Die Geschichte dieser gereizten Stimmungslage reicht weit in die Geschichte der linken Bewegungen zurück. Das Grundmuster war mit dem Schisma zwischen Marx und Bakunin entwickelt und hat sich seither zigmal wiederholt. In jüngerer Zeit machte sie sich breit, als die antiautoritäre Bewegung sich entmischte. Impulse, die von 1967 bis 1969 gebündelt waren, traten nun auseinander und verselbständigten sich sektenartig. Organisation wurde die Spezialität der ML-Gruppierungen, Spontaneität wurde zur Sache der Spontis, die Innerlichkeit wanderte in die Psychoszene aus, die Militanz in den bewaffneten Kampf, die Kiffer kifften. Was damit einherging, war, dass jede dieser Gruppierungen an allen anderen gerade das kritisierte, was ihr selbst im Entmischungsprozess verlorengegangen war. Die ML-Genossen ließen sich die Haare schneiden und verteufelten ihre eigene Vergangenheit als Hippietum und Subjektivismus.
Peter Brückner war ein früher Kritiker dieser Entwicklungen innerhalb der Linken. Die Sekte ist der Boden, auf dem Reinheitsgebote und semantische Idiosynkrasien gedeihen. Ein falsches Wort, und schon ist man als nicht Unsereiner erkannt und aus der jeweiligen Community ausgebürgert. Man entwickelt eine feine Witterung für die Wahrnehmung kleinster Differenzen. In der Politik war das Schlimmste oft mit einer gewissen Idee der Tugend, einem Ideal der »Reinheit« verbunden, in deren Namen zu allen Zeiten und an allen Orten Barbareien begangen wurden und weiter begangen werden. Die zuvor allen gemeinsame Erfahrung von Entfremdung und des Leidens an den Verhaltenszumutungen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft wich einer »Meinigkeit«, die das eigene Leid streitsüchtig vom Leiden der anderen abgrenzte. Statt das Gemeinsame zu betonen, entwickelten viele eine Art von Possessivbeziehung zur je eigenen Leidenserfahrung, die jedem anderen abgesprochen wurde. Wurde vorher das kollektive Sozialisationsschicksal einer ganzen Generation betont, war jetzt von meiner Mutter, meinem Vater, meiner Familie, meinen Lehrern die Rede. Es entwickelte sich ein nach rückwärts gerichteter Narzissmus der kleinsten Differenzen.
Bestand vorher die Gefahr, das Besondere der eigenen Lebensgeschichte in einem Schwefelsäurebad allgemeiner Begriffe aufzulösen, wurde nun die Unverwechselbarkeit des je eigenen Leids so stark betont, dass gemeinsames Handeln kaum noch möglich war. Zustände, Gefühle, Emotionen und Ängste wurden wie ein Schatz gehortet und als meine eifersüchtig geschützt. Und das zu einer Zeit, als das Individuum, das Ich, das Selbst aus dem Verkehr gezogen wurden und gerade das Unpersönliche, das Anonyme und Allgemeine am eigenen Schicksal deutlicher hervortrat. »Je weniger Individuen, desto mehr Individualismus«, hatte Adorno diese Tendenz schon viel früher lakonisch kommentiert.
Marcuse und der Feminismus
Im Laufe des Entmischungsprozesses begann man, sich wechselseitig die Berechtigung abzusprechen, sich über die Belange der anderen äußern zu dürfen. 1974 hatte es Herbert Marcuse gewagt, sich zum Feminismus zu äußern. Er hatte einen Vortrag gehalten, in dem er das radikal subversive Potential der Frauenbewegung begrüßte und ihr eine große Zukunft im Rahmen eines insgesamt »feministischen Sozialismus« prophezeite, der die Fixierung auf das (männliche) Leistungsprinzip und seine Werte überwinden und ein anderes Verhältnis zur Natur entwickeln würde. Ein Jahr später hatte ich das Glück, Marcuse in der legendären Tagungsstätte Salecina im Engadin zu begegnen. Eine Woche nahm er sich Zeit, mit einer bunt zusammengewürfelten und aus ganz Europa angereisten Gruppe junger Leute über »Perspektiven der Veränderung« zu diskutieren. Prompt warf ihm eine Gruppe Berliner Frauen vor, sich als Mann zum Thema Feminismus geäußert zu haben. Sie sprachen ihm rundweg die Berechtigung dazu ab. Ich bilde mir ein, dass ich damals zum ersten Mal den Begriff »Betroffene« gehört habe. Nur sie als »Betroffene« hätten die Berechtigung, sich zu Frauenfragen zu äußern. In seiner Erwiderung, die freundlich, aber bestimmt ausfiel, sagte Marcuse sinngemäß, dass ihn seine Rolle als kritischer Intellektueller dazu berechtige, ja sogar verpflichte, sich zu drängenden gesellschaftlichen Fragen zu äußern. Wenn das anders wäre und jeder sich nur zu seiner eigenen Befindlichkeit äußern dürfe, könne er weder etwas zum Vietnamkrieg, noch zur Diskriminierung der Schwarzen in den USA, ja strenggenommen auch nichts zur Ausbeutung der Arbeiterklasse sagen. Auch im Konzentrationslager sei er selbst glücklicherweise nicht gewesen, was ihn aber nicht hindere, sich zu der systematischen Vernichtung in den Lagern der Nazis zu äußern.
Andere Teilnehmer hielten ihm im Kontext einer Debatte über die Rolle des Proletariats irgendwelche Marx-Zitate vor. Auf Seite sowieso der »Grundrisse« stünde dazu dies und das. Darauf Marcuse: »Genosse, das steht in einem Buch, das vor über einhundert Jahren geschrieben worden ist.« Es sei grob unmarxistisch, den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, in dem bestimmte Marxsche Sätze gefallen sind, außer acht zu lassen. Wahrheiten besäßen einen historischen Index und könnten veralten. Der Marxismus sei kein Kanon heiliger Texte. Wir müssten den historischen Materialismus auf sich selbst anwenden. Das und nur das sei lebendiger Marxismus. In einer Mittagspause schloss ich mich einer kleinen Gruppe an, die mit Marcuse einen Spaziergang zu einem nahegelegenen See unternahm, und hatte Gelegenheit, ihn dies und das zu fragen. Noch heute habe ich seinen unverwechselbaren Sound im Ohr. Die Begegnung mit ihm war für mich richtungweisend. Seine unerschrocken-unorthodoxe Haltung und der beinahe flapsige Umgang mit heiligen Texten beeindruckten mich tief und wirkten wie ein Tritt in den dogmatisch verzagten Hintern. Die Spuren dieser Begegnung und der mein ganzes Leben durchziehenden Lektüre seiner Bücher und Texte sind heute noch in meinem Denken und Schreiben erkennbar.
Die Gießener Landbotin
Mir ist die Genderei zum ersten Mal auf den Leib gerückt, als ich vor drei Jahren für ein kleines linkes Blatt einen Beitrag zum 50. Jahrestag des Attentats auf Rudi Dutschke geschrieben hatte. Da dieses Blatt in Gießen erschien, hieß es in Anlehnung an Georg Büchner Der Gießener Landbote. Als mein Artikel im Blatt war, nahm ich verblüfft zur Kenntnis, dass diese Ausgabe unter dem Titel Die Gießener Landbotin erschien. Mein Protest kam natürlich zu spät und stieß obendrein auf taube Ohren. Alle fanden die Umbenennung in Ordnung und längst überfällig. Da begriff ich, was magisches Denken ist: der Glaube, die Sache selbst verschwände, wenn man sie anders nennt.
Annie Ernaux mit ihrer sensiblen Wahrnehmung für Sprünge des Zeitgeistes schreibt in ihrem Erinnerungsbuch »Die Jahre« über die 1990er Jahre: »Man war nicht mehr stolz auf das, was man getan hatte, sondern auf das, was man war, eine Frau, schwul, Provinzbewohner, Jude, Nordafrikaner etc.« Dieser Übergang ist in der Tat bemerkenswert und kennzeichnend für die Ära, die damals anbrach.
Noch mal zurück zu unserem Ausgangsthema Identitätspolitik: Der Mensch hat, wenn er nicht in seiner Erfahrungsfähigkeit verstümmelt ist, die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und mit ihnen mitfühlen zu können und die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. Diese Fähigkeit, die ohnehin auf tönernen Füßen geht und von allen Seiten attackiert wird, sollten wir uns von niemandem nehmen lassen, sondern wie eine vom Aussterben bedrohte Pflanze hegen und pflegen. Die Rechten definieren »Identität« in Kategorien von Volk, Nation, Rasse, Blut und Boden, die Linken mehr und mehr im Bezugsrahmen der Zugehörigkeit zu bestimmten Subkulturen und sexuellen Präferenzen. Dagegen sollten wir darauf beharren, dass wir alle Menschen sind, die sich auch mit anderen Menschen austauschen können, die nicht unmittelbar ihren Erfahrungsraum, ihre Hautfarbe und ihre sexuelle Orientierung teilen. Sonst können wir einpacken. »We are all waves of the same sea«, hat der US-amerikanische Maler Mark Tobey einmal gesagt.
Anmerkungen
1 www.gew-ansbach.de/tag/goetz-eisenberg
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Bis 2016 arbeitete er als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. An dieser Stelle schrieb er zuletzt in der Ausgabe vom 11. März 2020 anlässlich der Taten von Hanau und Volkmarsen über die Lüge vom gestörten Einzeltäter.
Wer fürchtet sich eigentlich vor wem?
Polizei vor Kiezkneipen- oder Waldschützern, Instagram vor linken Bloggern, Geheimdienste vor Antifaschisten? Oder eher andersherum? Die Tageszeitung junge Welt entlarvt jeden Tag die herrschenden Verhältnisse, benennt Profiteure und Unterlegene, macht Ursachen und Zusammenhänge verständlich.
Unverbindlich und kostenlos lässt sich die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) probelesen. Abbestellen nicht nötig, das Probeabo endet automatisch.
Leserbriefe zu diesem Artikel:
- Richard Netlef: Ist Identitätsbewegung gesponsert? Dank für die Genauigkeit der Analyse und den Mut der Positionierung! Und weil ein Kommentator irritiert war: Ja, man muss heute tatsächlich Menschen beispringen, deren politische Geschichte oder Agend...
- alle Leserbriefe
Debatte
Allein schon, dass Thierse sich um eine »Spaltung der Gesellschaft« sorgt, oh weh, oh weh! Am Ende führt das womöglich zu Einbrüchen in der Profitrate, wenn der Laden nicht mehr wie geschmiert läuft und sich die Arbeiterklasse (und ihre Subgruppen) bereitwillig ins System integrieren. Ich wette, Thierse hatte keine Sorge vor einer Spaltung der Gesellschaft, als er den sogenannten Hartz-Reformen zugestimmt hat, denn davon war er ja nicht betroffen.
Dass Thierse dann öffentlich (!) seinen Parteiaustritt »angeboten« hat, ist auch nicht anders zu verstehen als das Beleidigte-Leberwurst-Spielen eines, es ist nun mal so, alten, weißen Mannes, der seine Weltanschauung und sein Lebenswerk, seine Identität als DDR-»Bürgerrechtler« und Vorzeige-Sozi missachtet sieht und mit diesem Angebot quasi nach Solidarität und Zuspruch heischte, den er ja dann auch erhalten hat. Das hat ihm sicher gut getan.
»Gott sei Dank bin ich nicht so wie dieser da!«
Ja, in der Tat, so was denke ich bei Faschisten und anderen Menschen, von denen mich viel trennt. Ich möchte nicht sein wie sie, aber das ist doch keine allgemeine Folge von Identität. Man kann sich als Biodeutscher solidarisch fühlen mit Migranten, eben durch »die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und mit ihnen mitzufühlen«, wie Sie selber schreiben. Nur weil man sich z. B. als homosexuell oder sonst wie identifiziert, bedeutet das doch nicht, dass man damit alles andere negiert oder sich um sonst nichts als die eigenen Interessen und Befindlichkeiten schert. Im Gegenteil, die eigenen (Diskriminierungs-)Erfahrungen als Teil einer Minderheit können über Empathie zu Solidarität mit anderen Gruppen führen und letztlich auch zu Allianzen. Im Idealfall führt das natürlich dazu, dass erkannt wird, dass es letztlich der Kapitalismus ist, der es nie ermöglichen wird, dass alle Menschen ein selbstverwirklichendes und glückliches Leben führen können.
Dass es leider Leute gibt, bei denen man nicht viel von Solidarität merkt und man den Eindruck gewinnen kann, es gehe ihnen wirklich exklusiv um ihre spezielle Gruppe, gebe ich gerne zu.
Und ist linke Politik nicht letztlich Identitätspolitik bezogen auf die Arbeiterklasse? Da würden linke Kritiker der Identitätspolitik ja auch nicht argumentieren, man müsse doch viel mehr Wert auf das Verbindende legen statt auf das Trennende mit dem anderen Teil, also den Kapitalisten, und sich nicht nur auf die eigenen Befindlichkeiten und Interessen beschränken.
Und wenn man sich jetzt vor Augen führt, dass zahlreiche dieser Gruppen wirklich sehr kleine Minderheiten darstellen, die erst in den vergangenen Jahren angefangen haben, sich zusammenzuschließen und sich auch als Gruppen mit gemeinsamer Identität zu fühlen, die ihre Rechte und Gleichberechtigung einfordern, das ganze also aus der Perspektive der an den Rand gedrückten Minderheit durchaus nachvollziehbar sein kann, sich von einer viel größeren und mächtigeren Mehrheit bedroht zu fühlen, dann kann mit ein wenig Empathie diese »allergischen Reaktionen« verstehen.
Die Episode aus dem Gasthaus, in dem die Aktivisten die »Damen«- und »Herren«-Schilder abklebten, finde ich auch fragwürdig und kleinkariert. Ich persönlich würde mir da auch etwas mehr Rücksichtnahme wünschen, man muss ja wissen, dass man es auch mit Menschen zu tun haben kann, die ein viel »normaleres« und bürgerliches Leben führen, da muss man nicht direkt das volle Programm an Emanzipation auffahren, denn das könnte wohl wirklich befremdlich und abschreckend wirken. Erst recht, wenn es sich um einen Akt der Gastfreundschaft seitens der Gastwirtin handelt.
Wie mein Vorredner beweist, fehlt es »uns« immer noch am Respekt im Umgang mit unterschiedlichen Wahrnehmungen, selbst vor der von Leidensgenossen, als die wir uns doch verstehen könnten, sowie auch das Verständnis für die Dringlichkeit einer gemeinsamen Notanstrengung zur Abwendung der doch akuten Gefahren – und das in Zeiten der Pandemie und der dramatischen Klimaveränderungen, die unser aller Überleben bedrohen.
Hiermit möchte ich Götz Eisenberg jedenfalls für die ausführliche Behandlung dieses facettenreichen Phänomens ausdrücklich danken.
Josie Michel-Brüning, Wolfsburg
Hiermit möchte ich Götz Eisenberg jedenfalls für die ausführliche Behandlung dieses facettenreichen Phänomens ausdrücklich danken.
Josie Michel-Brüning, Wolfsburg
Wolfram Adolphi, Potsdam
Die aufgesetzte Weise, mit der die Geschlechterfrage gegenwärtig behandelt wird, ändert doch nichts an der gesellschaftlichen Realität. Mehr Frauen in den Aufsichtsräten und die Verwendung des idiotischen (verzeiht den Ausdruck) »*Innen« ändert nichts, ist nur Fassade, die nichts kostet und die Leute beruhigen soll.
Noch eine Bitte an Ralf S.: Wenn Sie schon nicht umhin kommen, Begriffe, die in der rechten Szene gern verwendet werden, zu benutzen, dann sollten Sie diese wenigstens in Anführungszeichen setzen. Ich beziehe mich damit auf »Biodeutscher«.
Und warum, bitte, sind meine Ausführungen nicht mit dem Schwur von Buchenwald in Einklang zu bringen? Ich finde das ein hartes Stück. Beim Schwur von Buchenwald wären damals intersexuelle oder nichtbinäre Menschen auch dabeigewesen, aber das waren andere Zeiten, damals wurden diese Mitmenschen, bis vor kurzem auch immer noch und in anderen Teilen der Welt sowieso noch immer, zwangsoperiert, damit sie geschlechtermässig ins binäre Schema passen. Und von den Nazis wären sie selbstredend auch ins KZ geworfen worden, aber die »sexuellen Abnormitäten« beschränkten sich damals noch auf Homosexualität.
Und es ist die Welt, die im Schwur von Buchenwald proklamiert wird, »der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit«, in der auch die Freiheit herrscht mit einer Geschlechtsidentität jenseits von männlich und weiblich gleichberechtigt leben zu können.
Scheinbar ist meine Botschaft nicht angekommen: Identitätspolitik steht nicht im Widerspruch zu Klassenpolitik. Auch hier gewinne ich wieder den Eindruck, dass sich eher konservativ gestrickte Linke, um nicht zu sagen »Altlinke«, schwer tun mit den neueren Erscheinungen emanzipatorischer Bewegungen.
Ich denke wir sind schon im wesentlichen einer Meinung zu dem Thema.
Was den Begriff »Biodeutscher« betrifft, bin ich der Meinung, dass es uns gut zu Gesicht steht, wenn wir uns in unserem sprachlichen Umgang klar von den rechten Kräften abgrenzen. Auch wenn der Begriff ursprünglich einen sachlichen Hintergund hat. Die Notwendigkeit dessen sehe ich u. a. in dem immer wieder von rechter Seite vorgetragenen Versuch, Losungen, Lieder und Begriffe aus dem Kampf der Arbeiterklasse für ihre Ziele zu missbrauchen.