Opfer auf Anklagebank
Von Knut Mellenthin
Auf den ersten Blick scheint der Sachverhalt klar: Die USA schlossen gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie ihren Gegnern Russland und China im Juli 2015 einen Vertrag mit dem Iran. Er sah vor, dass Teheran sich zu langjährigen Einschränkungen seines zivilen Atomprogramms verpflichtete, aber im Gegenzug von den westlichen Strafmaßnahmen befreit wurde, die sich direkt auf seine nuklearen Aktivitäten bezogen.
Es dauerte nicht einmal drei Jahre, bevor die USA am 8. Mai 2018 verkündeten, dass das Abkommen für sie keine Gültigkeit mehr habe und dass alle Sanktionen, auf die sie feierlich verzichtet hatten, wieder in Kraft treten würden. Für den nicht ganz unvorhersehbaren Fall eines Vertragsbruchs durch einen der Unterzeichner ermächtigte das Wiener Abkommen alle Vertragsparteien, ihre eigenen Verpflichtungen »ganz oder teilweise« zu ignorieren. Daran ist nichts Außergewöhnliches oder Bemerkenswertes.
Die europäischen Verbündeten der USA schafften es trotzdem, den Iran zwölf Monate lang von einer im Grunde selbstverständlichen sofortigen Reaktion abzuhalten. Sie erreichten das durch das Versprechen, sie würden trotz der US-Sanktionen an der in Wien zugesagten Normalisierung der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zum Iran festhalten und darüber hinaus nach Wegen suchen, den Iran für die durch den Vertragsbruch ihres wichtigsten transatlantischen Partners entstandenen Verluste zu entschädigen. Nachdem aber rein gar nichts geschehen war und das vom europäischen Trio gepriesene »neue Verrechnungssystem« Instex sich als Nullnummer erwiesen hatte – es war auf dieser Grundlage genau ein Vertragsabschluss zustande gekommen –, begann der Iran seit Mai 2019 schrittweise seine eigenen Verpflichtungen aus dem Wiener Abkommen zu ignorieren. Dass er dazu berechtigt war, ist nach den Maßgaben von Vernunft und Ehrlichkeit nicht zu leugnen.
Aber dennoch: Im Januar dieses Jahres kam ein neuer US-Präsident auf den Thron, der alle Schuld für die letzten vier Jahre auf seinen Vorgänger schiebt und grundsätzlich ignoriert, dass dieser nicht als schrulliger Privatmann, sondern als ordentlich gewählter Präsident das staatliche Handeln der USA bestimmt hat. Joseph Biden müsste nicht extra niederknien – das fällt mit 78 Jahren fast so schwer wie das Wiederaufstehen –, aber eine Entschuldigung bei den Menschen des Iran, die unter den Sanktionen und durch den Vertragsbruch seines Landes schwer gelitten haben, ist überfällig.
Statt dessen: Iran sitzt plötzlich nicht nur für Biden, sondern auch für dessen europäische Verbündete auf der Anklagebank und soll sich ihr Vertrauen durch Zugeständnisse auf geopolitischem und militärischem Gebiet erst einmal neu verdienen. Das ist verrückt. So funktioniert die Welt im Jahre 2021 denn doch nicht mehr. Hoffentlich.
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