Kopfschmerzen wegen »Sputnik V«
Von Reinhard Lauterbach
Sie könne sich nur wundern, sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Mittwoch in Brüssel. Da biete Russland große Mengen seines Coronaimpfstoffs »Sputnik V« zum Export an und habe selbst erst 1,5 Prozent seiner Bevölkerung immunisiert. Da müsse Moskau noch »Fragen beantworten«, so von der Leyen. Sie forderte außerdem internationale Inspektionen in den russischen Impfstofffabriken, bevor die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) eine Zulassung aussprechen könne. Ob Moskau diese Zulassung inzwischen beantragt hat, ist unklar: Die EMA bestritt entsprechende Meldungen aus Russland.
Von der Leyens Äußerung steht vor dem Hintergrund wachsenden Interesses an dem russischen Serum in Osteuropa. Serbien und Ungarn verabreichen es bereits, zuletzt äußerten Kroatien, die Slowakei und Tschechien ebenfalls Interesse. Alle diese Länder begründen ihre Haltung damit, dass die EU ihre Lieferzusagen nicht einhalte. Bei Tschechien kommt hinzu, dass es aktuell ein Hotspot der Pandemie in europäischem Maßstab ist und deshalb schnelles Handeln geboten scheint.
Zumal wissenschaftliche Zweifel inzwischen ausgeräumt sein sollten. Anfang Februar hatte das angesehene britische Fachblatt The Lancet dem russischen Impfstoff aufgrund der Ergebnisse der dritten Testphase eine Wirksamkeit von 91,6 Prozent bescheinigt – das ist erstens mehr als bei dem Angebot des Astra-Zeneca-Konzerns und zweitens gelte das auch für sämtliche Altersgruppen. Gegenüber der Berliner Zeitung vom Mittwoch hatten Berliner Forscher geäußert, »die Russen« verstünden »ihr Handwerk«. Das für die wissenschaftliche Seite verantwortliche Moskauer Gamaleja-Institut habe bereits erfolgreich Impfstoffe gegen das Ebolavirus und die im Nahen und Mittleren Osten verbreitete Atemwegserkrankung MERS entwickelt.
Es ist deutlich, dass bei der Zurückhaltung der EU-Spitze auch geopolitische Konkurrenz eine maßgebliche Rolle spielt. So hatte von der Leyen noch im November – bevor das Debakel mit den ausbleibenden Lieferungen der Impfhersteller bekannt wurde – großspurig erklärt, die EU würde künftig »auch auf dem Westbalkan und in Afrika mitimpfen«. Es kam bekanntlich anders.
Einige EU-Länder wollen offenbar grundsätzlich keinen russischen Impfstoff ins Land lassen. So zitiert das Portal Euractiv eine Professorin Agnieszka Legucka vom polnischen Rat für Außenpolitik mit der Aussage, Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine würden das russische Serum ohnehin nicht bekommen. Für die Ukraine ist das eine klare Unwahrheit: Russland hatte Kiew schon im Herbst eine Belieferung mit derselben Priorität wie bei der eigenen Bevölkerung angeboten – es war Kiew, das auf Druck der USA dieses Angebot ablehnte. Andere polnische Stimmen warnten davor, Moskau könne, nachdem es den Impfstoff geliefert habe, politische Gegenforderungen stellen. Man kann es auch so formulieren: Die Bevölkerung des Landes, das nach Darstellung der Zeitung Rzeczpospolita vom Dienstag auf dem besten Weg ist, in die dritte Welle der Pandemie zu schlittern, wird als Geisel der Geopolitik genommen.
Inzwischen nimmt die EU-Spitze den Mund nicht mehr so voll. Wenn »Sputnik V« zugelassen sei, könne er selbstverständlich verwendet werden, sagte ein Kommissionssprecher Euractiv. Vor dem späteren Frühjahr wäre aber auch unter sonst optimalen Bedingungen mit einer Lieferung nicht zu rechnen. Vorher wolle Russland seine eigene Bevölkerung weitgehed immunisiert haben, sagte Kirill Dmitrijew, Chef des russischen Fonds für Direktinvestitionen, laut einem Bericht des Deutschen Ärzteblatts von Anfang Februar. Ursula von der Leyen ist zwar ausgebildete Ärztin, aber sie hat wohl keine Zeit mehr, das Fachblatt zu lesen.
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
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Debatte
Offensichtlich lügt die EMA:
Russischer Fonds hat auf Twitter einen Beleg über Antragstellung veröffentlicht:
https://snanews.de/20210210/registrierung-sputnik-v-eu-russischer-fonds-beleg-antragstellung-865070.html