»Unfassbar, wie hier mit Menschen umgegangen wird«
Interview: Roland Zschächner
Sie haben vor wenigen Tagen das Flüchtlingslager Lipa im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas besucht. Wie ist dort die Situation?
Fürchterlich. Es ist Winter, es ist kalt. Das Lager liegt auf einem Bergzug. Es ist ein rauhes Klima. Die Menschen frieren und hungern, zudem haben sie keine Gesundheitsversorgung oder keine Möglichkeit, sich zu duschen. Das betrifft nicht nur das Lager in Lipa, sondern die gesamte Umgebung. Es gibt noch viele Menschen, die sich in Hausruinen oder in die Wälder zurückgezogen haben.
Ihre Hilfsorganisation hat sich entschlossen zu helfen. Was haben Sie dort gemacht?
Unser Vereinsmotto ist, möglichst schnell und effektiv einzugreifen. Es ist äußerst schwierig, nach Bosnien Waren einzuführen, weil es kein EU-Land ist. Wir haben eine Kreditkarte mitgebracht und die Organisationen vor Ort unterstützt: Für ungefähr 40.000 Euro haben wir Kleidung, Schlafsäcke, Lebensmittel, Werkzeug und 500 Paar Schuhe gekauft. Wir haben auch selbst mit angepackt. Außerdem haben wir versucht, die Situation in Bosnien zu verstehen. Das geht nicht von Deutschland aus.
Wie viele Menschen stecken zur Zeit in Bosnien fest?
Dazu gibt es keine validierten Zahlen. In Lipa selbst sollen rund 1.000 Menschen sein. Doch auch in der Umgebung sind viele Geflüchtete. Im ganzen Land sollen sich rund 10.000 Schutzsuchende befinden, im Grenzgebiet zu Kroatien sollen es insgesamt zwischen 2.000 und 3.000 sein. Die Mehrzahl von ihnen sind Männer. Es gibt zwar auch Familien, die gehen aber im Winter in andere Lager.
Im Dezember brannte das Lager nieder. Wie sieht es jetzt dort aus?
Derzeit ist unklar, wer überhaupt für Lipa zuständig ist. Das sorgt für Chaos. Ich war bisher dreimal dort. Konnten wir uns anfangs noch recht frei bewegen, wurde es später immer schwieriger, schließlich war es schwer, Hilfslieferungen überhaupt dort hineinzubringen. Uns wurde verboten, Fotos zu machen, und die Verteilung verlief ohne erkennbaren Grund unter hohem Zeitdruck. Journalisten ist der Zugang mittlerweile ganz untersagt. Im Lager gibt es mehrere Zelte, in jedem sind schätzungsweise 40 Menschen untergebracht. Soweit ich es überblicken konnte, gibt es immer noch keine Duschen. Die Gesundheitsversorgung wird von einer kleinen dänischen Hilfsorganisation gewährleistet.
Was berichten die Menschen in dem Lager?
Viele Geflüchtete erzählen von Pushbacks. Sie versuchen, über die kroatische Grenze nach EU-Europa zu gelangen. Sie werden dabei von der kroatischen Polizei aufgegriffen, brutal misshandelt – ich würde sagen gefoltert – und dann zurück nach Bosnien geschickt. Teilweise wird ihnen trotz Frost alles weggenommen, sogar die Schuhe. Das ist völkerrechtswidrig, denn jeder hat Anspruch auf die individuelle Prüfung von Asylgründen. Trotzdem wird es von der EU geduldet. Das ist ein humanitärer Skandal, der abläuft. Es ist unfassbar, wie hier mit Menschen umgegangen wird.
Von solchen Pushbacks haben Schutzsuchende Ihnen gegenüber berichtet?
Ja. Das ist auch kein Einzelfall, sondern schon fast die Regel. Viele Geflüchtete, sie kommen aus Afghanistan, Bangladesch, Pakistan oder aus dem Maghreb, versuchen das mehrmals. Sie berichten, wie sie von der kroatischen Polizei aufgegriffen werden, dass sie verprügelt werden, wenn sie auf dem Boden liegen, sobald einer den Kopf hebt. In Wunden werden teilweise Substanzen geschmiert, was schmerzhaft ist. Ihnen werden Handys, Hosen und Schuhe weggenommen. Sie werden mitunter in Flüsse geworfen.
Die EU hat Bosnien für die schlechte Lage der Geflüchteten verantwortlich gemacht. Ist das auch Ihr Eindruck?
Brüssel macht es sich damit sehr leicht. Warum hängen hier so viele Menschen fest? Weil die EU eine eiserne Mauer um ihre Außengrenze hochgezogen hat und viel investiert, um Menschen abzuwehren, die vor Not und Elend fliehen. Die EU ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass es hier so eskaliert. Bosnien wird wie Griechenland und Spanien mit der Situation allein gelassen. Ich sage nicht, dass in Bosnien alles in Ordnung ist. Auch hier gibt es Rassismus und Korruption. Aber die Hauptverantwortliche für die ganze Misere ist die EU. Für die ist die Situation perfekt: Die Grenze ist kaum zu überwinden und die Menschen hängen in Bosnien fest. Dass Flucht verunmöglicht wird, ist nicht zuletzt auch von der deutschen Regierung gewollt. Es wäre ein leichtes, die völkerrechtswidrigen Pushbacks zu verurteilen und auf die kroatische Regierung Druck auszuüben.
Axel Grafmanns ist Geschäftsführer des Vereins »Wir packen’s an e. V. – Nothilfe für Geflüchtete«
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