Im Reich der Bourgeoisie

Am 2. September 1870 kapitulierte die französische Armee nach der Schlacht bei Sedan vor den preußisch-deutschen Truppen. Bis 1918 wurde dieser Tag im Deutschen Kaiserreich, das am 18. Januar 1871 im Schloss Versailles gegründet worden war, vor allem an Siegesdenkmälern gefeiert. Die Sozialdemokratie lehnte diesen »Hurrapatriotismus« ab. Zum 25. Jahrestag äußerte die SPD ihren Protest in einem Grußtelegramm an ihre französischen Genossen, in dem sie sich gegen »Krieg und Chauvinismus« wandte. Das hatte Repressalien zur Folge. Zugleich erläuterte der SPD-Politiker Ignaz Auer (1846–1907) in einer Rede den Standpunkt seiner Partei zur Reichsgründung vom Januar 1871. Kritiker in der SPD warfen ihm vor, er habe »Gutes« und »Unschätzbares« daran gefunden. Dazu nahm Franz Mehring Stellung:
Auer hat einfach gesagt: Die Bildung eines Nationalstaats lag im Interesse der Arbeiter; sie hatten schwere Bedenken gegen die Art, wie dieser Nationalstaat zustande kam, aber nachdem dieser Nationalstaat einmal so fertig geworden ist, stellen sie sich auf den gegebenen Boden; sie denken nicht daran, die alte Kleinstaaterei zurückführen zu wollen, und ihretwegen hätte 1866 noch gründlicher mit den deutschen Teilfürsten aufgeräumt werden können. Das ist eine Feststellung von Tatsachen, womit Auer falschen Auffassungen in den Reihen der Gegner und vielleicht auch gewissen Unklarheiten in den eigenen Reihen begegnen wollte. (…)
Die Sache liegt vielmehr so, dass der Sedantag ein Fest der herrschenden Klassen werden musste, weil das Deutsche Reich von den herrschenden Klassen und in ihrem Interesse geschaffen worden war. Es hat vom ersten bis zum heutigen Tage (…) eine arbeiterfeindliche Politik getrieben. Und das musste so sein, da das Deutsche Reich nach den ökonomischen Bedingungen seiner Entstehung ein Mittel war für die Entwicklung der deutschen Bourgeoisie auf großem Fuße. Allerdings da es das Verhängnis der Bourgeoisie ist, sich nicht auf großem Fuße entfalten zu können, ohne dass sich auch das Proletariat auf großem Fuße entfaltet, so mag man die Gründung des Deutschen Reichs etwas »Gutes«, einen »unschätzbaren Fortschritt auch für die Arbeiterklasse« nennen. In diesem Sinne hat sie Marx begrüßt, als einen Weg, der dem deutschen Proletariat die Möglichkeit eröffne, seinen Emanzipationskampf in großem Maßstabe zu führen. (…)
Die Frage, ob irgendein Ereignis ein historischer Fortschritt sei, ist eine Frage der wissenschaftlichen Erkenntnis, die als solche mit dem moralischen und politischen Urteile nichts zu tun hat. Die Entstehung der Lohnarbeit war historischer Fortschritt, und die Erfindung der Buchdruckerkunst war es auch; an diesen Tatsachen wird nicht das Geringste dadurch geändert, dass die einen die Lohnarbeit als eine herrliche und die Buchdruckerkunst als eine scheußliche, oder die anderen umgekehrt die Lohnarbeit als eine scheußliche und die Buchdruckerkunst als eine herrliche Sache betrachten. Dagegen wechselt das moralische oder politische Urteil über einen historischen Fortschritt je nach der historischen Entwicklung und der historischen Stellung, welche die Urteilenden in dieser Entwicklung einnehmen. (Ferdinand) Lassalle (1825–1864, Hauptinitiator des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und so 1863 Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, jW) erklärte Freizügigkeit und Gewerbefreiheit für einen historischen Fortschritt von so unbedingter Notwendigkeit, dass sie nicht mehr diskutiert, sondern nur noch dekretiert werden dürften, und derselbe Lassalle verspottete aufs Bitterste die Meinung, dass dem Elende der arbeitenden Klasse mit Freizügigkeit und Gewerbefreiheit gesteuert werden könne. (…) Marx sah in der kapitalistischen Produktionsweise einen ungeheuren Fortschritt, und derselbe Marx sagte, das Kapital sei vom Kopf bis zum Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen. Die Gründung des Deutschen Bundes (Staatenbund deutscher Fürsten einschließlich des Kaisers von Österreich und »freier« Städte zwischen 1815 und 1866, jW) war ein historischer Fortschritt gegen das alte Heilige Römische Reich deutscher Nation, und doch hat die bürgerliche Klasse nie etwas »Gutes« oder »Unschätzbares« darin gesehen. (…) Und im Gange der historischen Entwicklung steht die deutsche Arbeiterklasse zum Deutschen Reich wie das deutsche Bürgertum zum Deutschen Bunde. (…)
Die Proteste gegen den Sedantag dürfen nicht vergessen lassen, dass bei alledem das Deutsche Reich ein historischer Fortschritt auch für die Arbeiterklasse ist, aber diese historische Erkenntnis darf niemals den schroffen Gegensatz verwischen, in dem das klassenbewusste Proletariat zum Reiche der Bourgeoisie steht.
Franz Mehring: Die Arbeiterklasse und das Reich. In: Die Neue Zeit, XIII. Jahrgang 1894/1895, Nr. 52. Hier zitiert nach dem Faksimile in der elektronischen Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung: kurzelinks.de/mehring-arbeiterklasse-kaiserreich
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
- Doris Prato, per E-Mail: Wichtiger Bildungsauftrag Eine nachlesbare Quelle wäre auch die im Leseland DDR erschienene Ausgabe der Gesammelten Schriften Franz Mehrings, in deren viertem Band »Aufsätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung« der Beitrag »D...
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