In New York kennt keiner Uwe.
Von Walter Kaufmann
Alexander Osang (Jg. 1962), dem sich mit der »Wende« das Tor zur Welt weit geöffnet hatte, weil er als junger Ostreporter zum Spiegel gelangte und in New York und Tel Aviv akkreditiert war, hat ein Buch über seine Glanzzeit geschrieben: »Fast hell« (was auch immer die Kombination der zwei englischen Worte bedeuten mag!).
Man erwartet einen Roman, bis heraus ist, dass dem Buch die herkömmliche Struktur dafür fehlt: Anfang, Mitte und Ende. Nun dann. Schuster bleib bei deinen Leisten – Alexander Osang bleibt dabei. Sein Text ist locker geschrieben, ist erzählerisch und oft humorvoll. Dabei gespickt mit trefflichen Beobachtungen. Die Wendezeit wird beschworen, die Atmosphäre jener Zeit, die Aufregung, die Fülle von Möglichkeiten: Einen Freund des Erzählers namens Uwe (für Englischsprechende ein nicht artikulierbarer Name), der schwul ist und sprachbegabt, weltgewandt und geschäftstüchtig, verschlägt es nach China, später quer durch den asiatischen Raum, bis sich schließlich sein Weg wieder mit dem des Freundes kreuzt, in New York-Brooklyn.
Ein wundersames Wiedersehen ist das in der Stadt, die niemals schläft – eine Überraschung für beide. Zusammen werden zwei Weitgereiste vom Big Apple kosten, werden mitnehmen, was Manhattan an Shows zu bieten hat, an exotischen Esslokalen, Musicals und Museen. Der eine lebt mit den Seinen in einem mehrstöckigen Holzhaus, in dessen Besitz er zufällig geraten ist, der andere in einer sündhaft teuren Mietvilla. Die zwei Ostler haben es geschafft und sind zuversichtlich, dass sie es auch weiterhin schaffen werden, in Amerika und sonstwo.
Was man doch alles über ihr einstiges Ostdasein erfährt und ihren Weg zum Erfolg im gegenwärtigen Westdasein. Und wie raffiniert Osang eine gemeinsame Viertagereise nach Sankt Petersburg zum Anlass nimmt, um an Vergangenes zu erinnern: Besonderheiten des Elternhauses, Leben und Ableben der Väter, Alltagsdasein von damals, und was es in der DDR mit der Stasi auf sich hatte. War die Institution allmächtig oder konnte man ihr ausweichen? Die zwei Freunde jedenfalls blieben unbeschadet, der Rückblick auf die Vergangenheit bleibt unaufgeregt. Damals war damals, und heute ist heute. Und war nicht »Selbst ist der Mann« auch in jenen Zeiten ein wichtiges Motto? Dieses Buch mit dem seltsamsten aller seltsamen Titel ist durchdrungen von fröhlichem Selbstbewusstsein – aber nicht nur deshalb über weite Strecken ein Vergnügen.
Alexander Osang: Fast hell. Aufbau-Verlag, Berlin 2020, 234 Seiten, 22 Euro
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