Vergessen und abgehängt
Von Susan Bonath
Die virtuelle Mathestunde vor dem eigenen Multifunktionsrechner im Kinderzimmer, die Mutter im Homeoffice als fröhliche Pausenbetreuerin: So ähnlich mögen sich die politisch Verantwortlichen für die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie das Homeschooling vorstellen, das sie vorerst bis Mitte Februar verlängert haben. Die Realität ist anders: Langsames Internet auf dem Land verhindert Videokonferenzen, arme Familien können sich das nötige Equipment nicht leisten. Und gerade in gering entlohnten Jobs ist Heimarbeit nicht möglich. Existentielle Sorgen belasten die Eltern. Schließlich ist nicht jede Mutter und jeder Vater ausreichend IT-bewandert, um den Kindern beizubringen, was ihnen in der Schule zuvor nicht vermittelt wurde: Lernplattformen zu nutzen, Drucker zu bedienen, E-Mails zu schreiben. Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter warnen vor schwerwiegenden Kollateralschäden. Am Donnerstag forderte eine Expertenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), gleiche Chancen für alle Kinder zu sichern.
Je länger die Schulschließungen dauerten, desto stärker würden sozial benachteiligte Kinder abgehängt, klagt die FES-Kommission in ihrer Stellungnahme. Um das Schlimmste zu verhindern, sei ein Sofortprogramm nötig. Unter anderem verlangen die Autoren ein Gesamtkonzept für Schulen bei längeren Phasen des Distanzlernens. »Handlungsleitend sollten insbesondere der Ausgleich von sozialer Benachteiligung und die Kompensation von Lernrückständen zur Sicherung von Mindeststandards sein«, heißt es. Lehrer benötigten Schulungen und alle Schüler Zugang zu nötigen digitalen Lernmitteln. Kinder mit Problemen seien persönlich pädagogisch zu betreuen und sollten auch bei einem teilweisen Präsenzunterricht unbedingt Vorrang haben. Die Autoren fordern zudem individuell angepasste Förderangebote. Die soziale Spaltung der Gesellschaft dürfe nicht länger ignoriert werden. »Ungleiches muss ungleich behandelt werden«, konstatieren die Experten.
Das Pandemiedrama der abgehängten Familien erlebt Bernd Siggelkow hautnah. Der Gründer des evangelikalen Jugendhilfswerks »Die Arche«, das bundesweit rund 4.500 Kinder betreut, warnte in einem am Montag veröffentlichten Interview mit der Süddeutschen Zeitung vor »fatalen Spätfolgen«. Für seine Klienten funktioniere das Homeschooling »so gut wie gar nicht«, resümierte er. Es fehlten internetfähige Computer und der Kontakt zu Lehrern. Eltern könnten den Kindern oft nicht helfen und seien »komplett überfordert«. Die Betroffenen würden nun »endgültig abgehängt«, erklärte er. Sein Fazit: »Wir gehen ganz stark davon aus, dass wir in ein, zwei Jahren erleben werden, wie Drittklässler weder richtig lesen können noch die Buchstaben und Zahlen richtig kennen.«
Auch Kinderärzte der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und Mediziner der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) hatten kurz vor der Verlängerung des Shutdowns vor »enormen Schäden für Kinder und Jugendliche« gewarnt. Letztere erkrankten »nur sehr selten« schwerer an Covid-19, erklärten sie am Montag. Zudem spreche weiterhin alles dafür, dass Schulen und Kindertagesstätten »keine Treiber der Pandemie« seien. Für Minderjährige seien diese Einrichtungen zugleich »systemrelevant«, betonten die Ärzte. Beim Aufdecken sozialer Probleme und Gefahren für das Kindeswohl spielten sie etwa eine wesentliche Rolle. Deshalb halten sie eine sofortige schrittweise Öffnung der Einrichtungen mit einem tragfähigen Hygieneplan für dringend geboten. Sie rügen: »Jedwede Einschränkung der Grundrechte von Kindern und Jugendlichen, die ihnen fremdnützig auferlegt wird, bedarf einer strengen ethischen Abwägung und einer wissenschaftlich konkret belegbaren Rechtfertigung.«
Offenbar ist die Kritik bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angekommen. Nachdem sie sich von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) am Mittwoch »nicht vorwerfen lassen« wollte, »Kinder zu quälen«, sicherte die Kanzlerin laut Nachrichtenagentur AFP am Donnerstag zu, bei einer möglichen Öffnung zuerst die Schulen und Kitas zu berücksichtigen.
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
- Sonja Ruf: Wie kommen wir da raus? Ich arbeite als Erzieherin im sozialpädagogischen Bereich einer städtischen Freiwilligen Ganztagsgrundschule in Saarbrücken. Nachdem ich seit März letzten Jahres alles mitgemacht habe, was die Coronap...
- Heinrich Hopfmüller: Sicherer Präsenzunterricht Man sehe sich diesen Film an: https://www.youtube.com/watch?v=DzkhRs5LG0I&feature=emb_logo Das steht in der Beschreibung: »Die Kinder in den Schulen hingegen werden ihrem Schicksal weitgehend schut...
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Debatte
Mich würde einmal interessieren, was Susan zum Thema »Zero Covid« schreiben würde, dem in der gestrigen jW-Ausgabe sogar zwei Beiträge an prominenter Stelle gewidmet waren.