Rotlicht: Hartz IV
Von Susan Bonath
Auf Hubertus Heil lastet eine schwere Bürde. Dem Bundesarbeitsminister mit SPD-Parteibuch könnte eine Woge des Zorns entgegenrollen. Sie droht nicht von ganz unten. Die Ärmsten hält seine Partei seit mehr als 16 Jahren mit der Existenzkeule unter der Knute des »Hartz-IV«-Regimes. In der Coronakrise aber könnte die Armutswelle einen Teil der Mittelschicht mit sich reißen. Viele Selbständige und Kleingewerbetreibende stehen vor der Insolvenz und dem Abstieg in das Gängelsystem. Heil rotiert: Ist Hartz IV zu repressiv für diese potentielle Wählergruppe? Einen Gesetzentwurf zur Abmilderung habe er schon in der Schublade: Vermögensgrenzen rauf, Mietobergrenzen weg, Bürokratie raus.
Heil wünscht sich, »dass sich Menschen keine Sorgen um ihre Wohnungen und ihr Erspartes machen müssen«. 60.000 Euro »Lebensleistung« und – für mindestens zwei Jahre – die zu teure Wohnung will er ihnen lassen. Ferner will er ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom November 2019 dauerhaft umsetzen. Sanktionen von mehr als 30 Prozent Abzug sollen passé sein – nach anderthalb Jahrzehnten, in denen seine Partei das Regime, großteils in leitender Stellung, eisern verteidigt hatte. Menschen in die totale Mittellosigkeit bis unter die Brücke zu sanktionieren, wenn sie nicht gehorchten: kein Problem.
Auf 446 Euro plus »angemessene Wohnkosten« beziffert der Staat seit 1. Januar die Untergrenze der Reproduktionskosten für einen Alleinstehenden. Kleinkinder lässt er sich noch 283 Euro pro Monat kosten. Hartz IV gibt es außerhalb der vorübergehend wegen Corona geltenden Vereinfachungen nur, wenn Betroffene ihre Rücklagen bis auf 150 Euro pro Lebensjahr aufgebraucht haben. Dazu gehören auch ein zu geräumiges Eigenheim und das Tafelsilber.
Bliebe Hartz IV, wie es ist, könnte das jene erzürnen, die bislang wenig damit zu tun hatten. Es geht nicht nur um mickrige Überlebensleistungen und Umzugszwang, sondern auch um akribisches Ausleuchten des Privaten. Das ist wohl auch den Grünen bewusst: Gut acht Monate vor der geplanten Bundestagswahl stellten sie kürzlich ihr Sozialprogramm vor. Hartz IV soll danach zu einer »Garantiesicherung« werden, ohne Sanktionen und mit 600 Euro Mindestregelsatz für Alleinstehende.
Die neoliberale Einheitsfront will das verhindern: CDU, FDP und AfD wittern eine Art »bedingungsloses Grundeinkommen durch die Hintertür«. Das sei mit dem Hartz-IV-Prinzip »Fördern und Fordern« nicht vereinbar, so Peter Weiß (CDU) und Pascal Kober (FDP). Der AfD-Politiker René Springer sagte zum Ansinnen der Grünen, Sanktionsfreiheit würde »die Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit deutlich absenken«.
Der Faulheitsvorwurf bestimmte einst die Propaganda, mit der zwischen 2003 und 2005 die Agenda 2010 genannte Aushöhlung des Sozialsystems vorbereitet und begleitet wurde, und deren berüchtigster Bestandteil eben dieses »Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, also Hartz IV ist. Es gebe »kein Recht auf Faulheit«, schimpfte Altkanzler Schröder schon im April 2001 in Bild. Damals bastelten er und seine grünen Koalitionspartner bereits mit Bertelsmann, McKinsey und Co. zur Freude von Union und FDP an größten Sozialabbauprogramm der Bundesrepublik. Das Springerblatt giftete ausgiebig über »Sozialschmarotzer«, machte Jagd auf »Deutschlands frechste Arbeitslose«, »Florida-Rolf« und »Mallorca-Karin«. Anfang 2006, ein Jahr nach der Einführung von Hartz IV als letztem Programmpunkt, legte Schröders Genosse Franz Müntefering, damals Arbeitsminister, medienwirksam nach: Nur wer arbeite, solle auch essen. Statt neuer Wähler gewannen SPD und Grüne damit ein dickes Lob von Union und FDP. Wenn es darum geht, die Interessen des Kapitals durchzusetzen, wissen sie inzwischen auch die AfD an ihrer Seite.
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