Die Gefahren bleiben
Von Victor Grossman
Schockiert waren fast alle, überrascht kaum jemand – außer der Nationalgarde und anderen Sicherheitskräften, und denen nahm das sowieso niemand ab. Denn US-Präsident Donald Trump hatte seit seiner Wahlniederlage im November, immer deutlicher gegen Jahresende, gefordert, dass sein Mob losmarschiert – zuletzt dann kurz vor der Erstürmung des Kapitols von einer großen Bühne.
Ich hatte nur selten das Glück, einem so lustigen Mob zu begegnen. Im Juni 1948, noch als Student der US-Universität Harvard, gehörte ich einer kleinen Gruppe an – etwa zwei Dutzend Personen –, die gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht demonstrierte. Denn Soldaten, glaubten wir, brauchten die USA nicht mehr. Manche waren anderer Meinung: Unsere Gegner standen schon bereit und bewarfen uns mit Tomaten und Eiern. Plötzlich ging es härter zu; ein Schlag traf mich von hinten. Für einen Augenblick wurde alles schwarz. Ein Polizist – er stand vor mir – beantwortete meine Bitte um Schutz mit eisigem Blick. Für ihn wie für die Hasserfüllten, die uns kurze Zeit umringt hatten, waren wir nur Schwarze, Juden, Kommunisten – »Commies« –, also Feinde.
Das nächste Mal war der 4. September 1949 im Ort Peekskill unweit von New York. Der imposante schwarze Sänger und Schauspieler Paul Robeson – damals weltbekannt wie kaum ein anderer – hatte es gewagt, gegen Rassismus, gegen Kolonialherrschaft, gegen das US-Streben nach Weltmacht, gepaart mit Kriegslüsten gegen die Sowjets, mutig aufzutreten. In einem schönen Tal hörten ihm etwa 20.000 Menschen begeistert zu. Gleich nach dem Konzert lenkte uns die Polizei planmäßig in eine Waldstraße, wo uns Gruppen von Männern und Jugendlichen mit einem Haufen Steine erwarteten. Sie bewarfen unseren Bus, fast jede Scheibe ging zu Bruch. Unterdessen riefen sie uns Obszönitäten zu – gegen Schwarze, gegen Juden, gegen Kommunisten!
Das Schicksal brachte mich wenige Jahre später nach Ostberlin. Solche Typen gab es da nicht – oder sie schwiegen. Seit drei Jahrzehnten nun darf ich aber immer wieder ähnlich verzerrte Antlitze sehen und ähnlich gespuckte Hassworte hören, nun allerdings auf deutsch. Sie richten sich seltener gegen Juden – die meisten von denen hatte man ja drei Generationen zuvor »endgelöst«! Dafür um so mehr gegen die zahlreicheren »anderen« mit dunkler Hautfarbe, mit anderer Kleidung oder mit Akzent. Und – wie immer – gegen Kommunisten und ähnliche »Zecken«.
Ob in Berlin, Washington oder anderswo, es geht immer gegen »die anderen« und für »unsere Nation«! Größer, stärker und »reiner« soll sie werden: »Deutschland über alles« – »Make America Great Again« – »Deutschland den Deutschen« – »God bless America!« Und immer gegen die Verräter, die »Gutmenschen«, die »Weltverbesserer«! Also gegen Linke!
Zu ihrem Hass gehört eine Liebe – und zwar zu Waffen. Je mehr, je größer, je moderner, desto besser! Um die Schulter gehängt oder in ihren Silos und Hangars, schnell erreichbar und einsetzbar!
Die schönen Räume des Kapitols in Washington sind inzwischen repariert, gereinigt, die schönen Marmortreppen besenrein. Die Verantwortlichen sollen sogar bestraft werden. Zu grob, zu krude sind solche Typen, wie auch ihr Idol, das nach vier Jahren nun endlich ausgestoßen wird. Jetzt kommt ein freundlicher, höflicher alter Herr an die Reihe, der auch lesen und in ganzen Sätzen reden kann. Man darf ein wenig aufatmen.
Doch die Gefahren bleiben. Das System, beileibe nicht nur an Corona erkrankt, wird ungerechter, instabiler. Die Millionäre, erst recht die Milliardäre, werden sehr viel reicher! Dafür werden Millionen immer ärmer, ihr Leben immer prekärer. In zunehmendem Maß verdunkeln die Schatten von immenser Gier und Rassenhass, von Liebe zur Gewalt und zur Expansion auf fernen Kontinenten die Zukunft meines Heimatlandes!
Die USA wurden sowohl von den eigenen Superpatrioten wie von Bewunderern und Verbündeten in aller Welt als Leitmodell, als Wegweiser gepriesen. Vor einigen Tagen gab es einen Schreck! Der Gröbste, Krudeste wird bald weg sein. Doch drohen die Gefahren, die sich in Washington so krass zeigten, dort und in vielen anderen, näherliegenden Ländern, nicht auch weiterhin?
Victor Grossman ist Autor und Journalist. Er wurde 1928 als Stephen Wechsler in New York geboren. Anfang der 1950er desertierte er aus der US Army und ging in die DDR.
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
- Wolfgang Kroschel, Cottbus: In Wartestellung Dank an Victor Grossman, der seine Erinnerungen an Peekskill im September 1949 aufleben lässt. In meinem Bücherschrank steht das Buch »Peekskill USA« von Howard Fast, das ich schon mehrere Male gelese...
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Debatte
Das gilt bei denen seit gut 230 Jahren so.
Die letzten vier Jahre haben aber auch extrem gezeigt, dass in den USA nicht nur der MIK, sondern auch die (vor allem digitalen) »Medien« bestimmen, wo es lang geht.
Und die Pharmaindustrie (gerade in diesen Zeiten) nicht zu vergessen.
Der übliche Imperialismus halt ...
PS: Bleib uns noch lange erhalten, Victor!