Prozess der Verrohung
Von Jörg Kronauer
Abstiege sind gefährlich, und das nicht nur bei einer Bergwanderung. Die unentwegten Bemühungen von US-Präsident Donald Trump und eines Teils seiner Partei, ihren bevorstehenden Machtverlust um jeden Preis abzuwenden, mündeten am Mittwoch in den ersten Sturm auf das Washingtoner Kapitol seit 1814, als marodierende britische Truppen das Gebäude in Brand steckten. Anders als damals ist das Parlamentsgebäude dieses Mal weitgehend intakt geblieben. Ob man das von der bürgerlichen Demokratie in den USA auch sagen kann, darf doch bezweifelt werden. Trump hat sie im Kampf gegen seinen persönlichen Abstieg weiter beschädigt.
Nun haben Länder, die ihr Staatsoberhaupt wählen, meist einen Präsidenten, den sie verdienen. Das gilt sicherlich für die Vereinigten Staaten und Trump. Die USA befinden sich ihrerseits im Verfall. Die unangefochtene Dominanz in der Weltpolitik, die sie in den 1990er und den frühen 2000er Jahren genossen hatten, sie schwindet vor allem wegen des Aufstiegs Chinas mehr und mehr. Im Innern geht mit dem Abstieg eine immer krassere Spaltung zwischen einer wohlsituierten Bourgeoisie und deutlich schlechter gestellten, teils bitter verarmten Schichten ohne jegliche Zukunftsperspektive einher. Deren Hass auf das Establishment hat dazu beigetragen, einen Präsidenten ins Amt zu bringen, der das Land konsequent nach rechts gepeitscht hat, und dies nicht nur im Land, sondern vor allem auch nach außen: Das Gerede vom »China-Virus« etwa war nie nur Wasser auf die Mühlen der Rassisten; es war vor allem auch der Versuch, das Land für den großen Kampf gegen China zu stählen – vielleicht, wer weiß, gar für einen Krieg.
»Make America Great Again«, der Versuch, den Niedergang zu stoppen, hat denn auch Verhärtungen an beiden Fronten gebracht – wie an der äußeren, so auch an der inneren. Und es kann ja kaum anders sein: Die Verrohung, die etwa Kriege mit sich bringen, geht an der Gesellschaft, die die Soldaten entsendet, nicht spurlos vorbei. Der Jubel über Putschversuche in Venezuela oder über den Sturm auf das Parlament in Hongkong – er trägt nicht dazu bei, den Glauben an die Unverletzbarkeit bürgerlich-demokratischer Institutionen zu stärken. Fast folgerichtig erscheint es da, dass Trump, als nach der Wahlniederlage aus seinen Plänen für einen Überfall auf Iran nichts wurde, dazu überging, im Innern gegen die bestehende Ordnung zu mobilisieren. Und so dilettantisch der Sturm auf das Kapitol am Mittwoch – zum Glück – vollzogen wurde: Er hat gezeigt, was möglich, was machbar ist, wenn die Umstände es nach Auffassung zumindest einiger Mächtiger erfordern – auch in Washington, D. C. Bleibt zu hoffen, dass der alte Marx in diesem Fall unrecht hatte und dass sich nicht alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen zweimal ereignen – das eine Mal als Farce, das andere Mal dann als Tragödie.
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
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Philanthrop des Tages: Max Otte
vom 08.01.2021
Debatte
Michael S. aus H. strickt (wie andere Trumpisten, wobei ich nicht behaupte, dass Michael S. aus H. ein Trumpist sei) in seinem Onlinekommentar an einer neuen Legende. Formal ist es richtig, dass Trump keinen neuen Krieg begann. ABER: Die alten Kriege wurden nicht beendet, sondern bedenkenlos fortgesetzt. Mehr noch als seine Vorgänger ging Trump mehr und mehr zur Strategie der Sanktionen über, einer anderen Form von Krieg, denn die wirtschaftlichen Sanktionen treffen immer das Volk, für deren Freiheit die USA angeblich streiten. Eine mögliche Verelendung des Volkes, das letztlich sanktioniert wird, soll als Waffe dienen. Es ist diesmal kein Krieg mit herkömmlichen Waffen, aber die Trumpschen Sanktionswaffen sind auch letal.
Nicht zu vergessen sei auch die Ermordung des iranischen Generals Soleimani. Dass mit dieser kein Krieg ausgelöst wurde, ist der Zurückhaltung Irans zu verdanken. (jt)