»Es gibt eine systematische Unterfinanzierung«
Interview: Ralf Wurzbacher
Eine der aktuellen Kampagnen Ihres Vereins befasst sich mit der Schließung von Krankenhäusern. Wie viele Kliniken haben allein im zu Ende gehenden Jahr in Deutschland dicht gemacht?
In 2020 haben wir 20 Krankenhäuser verloren, davon allein acht im Dezember. Darunter waren viele Standorte, die Coronapatienten behandelt haben, zahlreiche Intensivstationen und Notaufnahmen und auch überproportional viele Geburtsstationen. Von den Schließungen sind 2.144 Betten betroffen. Man muss sich klar machen: Die einzelnen Kliniken trifft keine Schuld. Nächstes Jahr könnte es noch viel schlimmer werden. Laut Bundesrechnungshof droht 200 Krankenhäusern akut die Insolvenz. Die Unterfinanzierung ist systematisch.
Gibt es Fälle, in denen der Schließungsbeschluss nach Beginn der Coronakrise erfolgte?
Das war sogar in den meisten Fällen so. Bei Insolvenzen geht es oft schnell. In einem Fall lagen nur zwei Wochen zwischen der Ankündigung und dem endgültigen Aus. 17 der 20 Schließungen fallen auf die Monate Juni bis Dezember. Ältere Schließungsbeschlüsse hätte man neu überdenken müssen. Es ist unverständlich, wieso die Lufthansa oder TUI mit vielen Milliarden Euro gerettet werden. Aber die Krankenhäuser lässt man eiskalt über die Klinge springen.
Aber hat sich nicht wenigstens der Rechtfertigungsdruck solcher Maßnahmen durch die Pandemie erhöht?
Der Rechtfertigungsdruck hat sich massiv erhöht! Und er wird weiter steigen. Aktuell schrumpft die Zahl der verfügbaren Intensivbetten drastisch zusammen. Das öffentliche Leben ist stark eingeschränkt, das private Leben an vielen Stellen auch, die Wirtschaft ist massiv betroffen, die Staatsschulden explodieren. Die stationäre Versorgung wird für die ganze Gesellschaft zum Flaschenhals. Ich glaube nicht, dass sich Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache traut, vor dem Foto von einem Krankenhaus zu verkünden: Diese Klinik brauchen wir nicht mehr. Von den Schließungen in diesem Jahr sind auch rund 4.000 Beschäftigte betroffen. Das sind unsere öffentlichkeitswirksam beklatschten Heldinnen und Helden vom Frühjahr. Die hat man nur kurze Zeit später mit einem Fußtritt vor die Tür gesetzt.
Wie wird konkret für die Schließungen argumentiert?
Letztes Jahr hieß es: Kleine Kliniken liefern schlechte Qualität, und wenn sie pleite gehen, haben sie eben schlecht gewirtschaftet. Das mit der schlechten Qualität wurde oft wiederholt, aber nie belegt. Das Gegenteil stimmt: Regionale Kliniken machen das, was sie anbieten, gut bis ausgezeichnet. Mit Corona wurde klar, dass regionale Krankenhäuser mehr sind als seltsame Überbleibsel aus einer Zeit, als es noch eine Daseinsvorsorge gab. Im November behaupteten die Lobbyisten daher, man habe »Lehren aus Corona« gezogen. Die Lehre lautet, viel weniger Krankenhäuser sollen besser für uns alle sein. Außerdem würden kleine Häuser nichts zur Bewältigung der Coronakrise beitragen. Tatsächlich haben viele sogenannte Kleine Coronafälle aufgenommen, und andere haben den Maximalversorgern den Rücken freigehalten. Wenn die jetzt wegfallen, wird es noch enger.
Wenn nicht die Patienten vom Kahlschlag profitieren, wer dann?
Da sind die fünf großen privaten Klinikkonzerne, die gewinnen Marktanteile. Dann kommen die Finanzinvestoren hinzu, die alte Klinikstandorte billig aufkaufen und dort Pflegeheime oder Ambulatorien einrichten. Es ist ein Milliardenmarkt.
Wie verhält sich eigentlich der als großer Krisenmanager gefeierte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der Frage?
In der Finanzkrise garantierte Angela Merkel für die Spareinlagen. Banken bekamen einen Billionenrettungsschirm. Mario Draghi garantierte Stabilisierungskäufe, »koste es, was es wolle«. All das galt dem Finanzsektor. Jetzt ist aber der Gesundheitssektor mitten in seiner größten Krise. Und Jens Spahn schweigt zu den Krankenhäusern – ein Unding.
Was kann man tun?
Wir brauchen eine landesweite Klinikrettung. Sofort! Dazu haben wir das Bündnis Klinikrettung ins Leben gerufen. Der Staat muss die Krankenhäuser erhalten – wir brauchen jedes einzelne! Den Erhalt müsste Spahn garantieren. Macht er es nicht, muss es die Kanzlerin machen.
Carl Waßmuth ist Sprecher des Vereins »Gemeingut in BürgerInnenhand« (GiB), der sich für die Demokratisierung der Daseinsvorsorge einsetzt
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
- Ortwin Zeitlinger, Berlin: Was stimmt? Nach der Lektüre des Interviews mit Carl Waßmuth frage ich mich: Was denn nun? Entweder ist die Situation wegen »Corona« extrem angespannt, wie tagein tagaus verkündet wird. Dann darf aber auch kein e...
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