Digitale Entkoppelung
Von Sebastian Carlens
Die Mühlsteine der Europäischen Union mahlen langsam. Als der damalige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker 2018 in kryptischen Worten verkündete, eine Stunde sei »das entscheidende Zeitfenster, während dessen Öffnung größter Schaden angerichtet werden« könne, wusste niemand, von was der Mann redet. Nun, Jahre später, die Auflösung: Ein EU-Gesetz, das Betreiber sozialer Netzwerke (und, darüber hinaus, Webseiten mit Kommentarfunktion) auch ohne Gerichtsurteil verpflichtet, binnen einer Stunde »terrorverdächtige« Posts zu löschen.
Da die EU immer dann herhalten muss, wenn die herrschende Klasse der BRD Dinge beschließt, die erkennbar unpopulär sein werden, handelt es sich bei dem Vorstoß um eine drastische Verschärfung des deutschen »Netzwerk-Durchsetzungsgesetzes«, das noch 24 Stunden Reaktionszeit verlangt hatte. Schon das ist für viele kleine Seitenbetreiber kaum zu schultern, entsprechend heftig fiel die Kritik am »NetzDG« aus. Die neue EU-Bestimmung toppt das alles – nur ist diesmal Brüssel schuld.
Niemand hat etwas dagegen, wenn blutrünstige Videos von islamistischen Kopfabschneidern oder herumballernden Faschisten verschwinden. Das geben auch die aktuellen Gesetze her. NetzDG und Co. sollen aber eine weitere Funktion erfüllen, und hier kippt die Sache ins Groteske: Das deutsche Kapital hat das »Neuland Internet« bekanntlich freiwillig US-Konzernen überlassen. Spätestens seit Donald Trump zeigte sich, dass diese Medien eine politische Dimension haben; aus werbebunten Spielwiesen wurden schrille Hetzplattformen, die der Kontrolle der BRD nicht nur entzogen sind, sondern zudem Monopolcharakter besitzen. Für gewöhnlich greifen Staaten als ideelle Gesamtkapitalisten in solchen Fällen zu Protektionismus; sie bekämpfen ausländische Konkurrenz, um heimischen Marken zum Aufschwung zu verhelfen. In diesem Fall gibt es jedoch keine Eigengewächse, die EU-Abschottung führt notwendig zur Entdigitalisierung. Die BRD feiert sich dafür gern als Vorreiter in Sachen »Datenschutz«. Klar, wenn es keine Daten gibt, muss man sich auch nicht um Missbrauch sorgen.
Das Resultat? Die Großen haben Heerscharen von Anwälten, die sie raushauen. Die Kleinen löschen lieber alles oder schalten ihre Funktionen ab, um nicht in die Bredouille zu kommen. Und was »Terrorpropaganda« ist, bestimmt der Verfassungsschutz: Heute ein Bild von PKK-Fahnen, morgen dann der Aufruf zum »wilden« Streik, übermorgen vielleicht jede Kritik an den »Antiterrorgesetzen«. Nur die deutschen Hetzer – wie die Bild – sind fein raus.
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