Strafrechtsreform ignoriert
Von Kristian Stemmler, Hamburg
»Ihr seid nicht allein«, rief ein Aktivist ins Mikro. Etwa 100 Demonstranten bekundeten am Donnerstag vormittag vor dem Hamburger Strafjustizgebäude ihre Solidarität mit den fünf Angeklagten im sogenannten Rondenbarg-Prozess, der dort im Saal 300 begann. Vor der Großen Strafkammer 27 des Landesgerichts sind drei Frauen und zwei Männer in einem Pilotprozess für ihre Teilnahme an einer Demonstration im Industriegebiet Rondenbarg während des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg angeklagt (siehe jW vom 27.11.). Am ersten Verhandlungstag wurde lediglich die Anklage verlesen, weil ein Verteidiger, der Hamburger Anwalt Matthias Wisbar, erkrankt war. Nach einer halben Stunde war Schluss, am Mittwoch kommender Woche soll der Prozess fortgesetzt werden.
Wegen drohender Konsequenzen für das Versammlungsrecht wird das Verfahren nicht nur in der linken Szene aufmerksam verfolgt. Es findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil die Angeklagten zum Tatzeitpunkt 16 und 17 Jahre alt waren. Gegenüber jW kritisierte die zum Verteidigerteam gehörende Anwältin Fenna Busmann, dies diene nicht dem Schutz der Angeklagten, sondern solle das Verfahren von einer kritischen Öffentlichkeit abschirmen.
Die fünf Betroffenen gehörten zu einem Demozug von rund 200 Personen, der am 7. Juli 2017 zu geplanten Straßenblockaden unterwegs gewesen war und am Rondenbarg von der Bundespolizei brutal zerschlagen wurde. Dabei wurden mindestens 14 Demonstranten verletzt. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen 73 am Rondenbarg festgenommene Aktivisten. Ihnen werden keine konkreten Taten vorgeworfen. Vielmehr werden die wenigen Steinwürfe und Sachbeschädigungen, die es gegeben haben soll, allen zugerechnet.
In einer Erklärung bezeichneten die Verteidiger diese Anklagekonstruktion am Mittwoch als »G-20-Sonderrecht« und »Angriff auf das Recht der Versammlungsfreiheit«. Das Vorgehen widerspreche »zentralen Grundsätzen eines Jugendverfahrens und der gerichtlichen Fürsorgepflicht«. Die Staatsanwaltschaft wolle »die Zeit zurückdrehen«. Allein die Anwesenheit in der Versammlung solle für »eine Strafbarkeit wegen schweren Landfriedensbruchs, Widerstands, Bedrohung und Bildung einer bewaffneten Gruppe ausreichen«. Busmann erklärte, die Anklage wolle zurück zur Lesart des Landfriedensbruchs vor der Reform des Paragraphen. Bis 1970 wurde jeder bestraft, der an einer »Zusammenrottung« teilnahm, die den »öffentlichen Frieden« störte. Seitdem muss eine aktive Beteiligung nachgewiesen werden.
Unter den Demonstranten vor dem Strafjustizgebäude war auch der zum Prozessauftakt angereiste Italiener Fabio V. – sein im Februar 2018 geplatztes Verfahren vor dem Amtsgericht Altona war das erste zum »Rondenbarg-Komplex« gewesen. Für Sonnabend mobilisiert die von mehr als 100 linken Gruppen und Organisationen getragene Kampagne »Gemeinschaftlicher Widerstand« zu einer bundesweiten Demonstration in Hamburg. Beginn: 16 Uhr, Hauptbahnhof.
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