Rotlicht: »Islamischer Staat«
Von Knut Mellenthin
Im Oktober 2006 tauchte erstmals die Selbstbezeichnung »Islamischer Staat Irak« (ISI) für eine schon seit 2003 bestehende, kurz nach dem US-amerikanisch-britischen Einmarsch im März gegründete Organisation auf. Seither haben sich Gruppierungen mit diesem Namen in leichten Abwandlungen über viele andere Länder des Mittleren Ostens und Afrikas verbreitet, ohne dass sich zuverlässige Rückschlüsse auf eine zentrale Führung ziehen ließen. Seit Mitte 2018 sind islamistische Aufständische unter dem Namen ISIL auch in der Provinz Cabo Delgado im Nordosten von Mosambik zusehends aktiv und sorgen vor allem durch Massenmorde für Pressemeldungen.
Zeitweise hielt die internationale Terrorbewegung als »Islamischer Staat Irak und Levante« (ISIL) oder »Islamischer Staat Irak und Syrien« (ISIS), Kurzform »IS«, nach unterschiedlichen Schätzungen mindestens 35.000 Quadratkilometer in den beiden benachbarten Ländern besetzt, vielleicht sogar erheblich mehr. Zwischen Juni 2014 und Juli 2017 kontrollierte die Organisation militärisch und verwaltungsmäßig auch Mossul, die zweitgrößte Stadt Iraks im Norden des Landes.
Mehrfach wurde der »Islamische Staat« als endgültig besiegt oder entscheidend geschlagen bezeichnet. Erstmals geschah das schon nach der Tötung des Gründers der Organisation, Abu Mussab Al-Sarkawi, durch einen US-amerikanischen Luftangriff am 7. Juni 2006. In den folgenden Jahren wurde der IS durch die Streitkräfte der USA und von ihnen aufgestellte, mit ihnen eng zusammenarbeitende sunnitische Milizen dem Anschein nach aufgerieben oder bis zur Bedeutungslosigkeit in den Untergrund gedrängt.
Die Lage änderte sich jedoch grundlegend nach dem Abzug fast aller US-Truppen aus dem Irak, der am 15. Dezember 2011 mit einer Zeremonie abgeschlossen wurde. Der Rückzug war aus Sicht der Regierung in Washington unvermeidlich geworden, da der Irak sich damals weigerte, der Forderung nach juristischer Immunität für die US-amerikanischen Soldaten nachzukommen.
Gleichzeitig wurde der ISI auch in Syrien immer stärker, wo die islamistische Opposition seit Juli 2011 von Demonstrationen zu Terroranschlägen und bewaffneten Angriffen überging. Seit April 2013 und dem Anschluss der Fatah-Al-Scham-Front führte der ISI den Namen ISIL oder ISIS.
Die Bezeichnung als »Islamischer Staat« drückt den Anspruch aus, nicht nur militärische Aktionen und Anschläge durchzuführen, sondern auch ein Territorium konstant besetzt zu halten und zu verwalten. Dadurch und durch die Fähigkeit zu klassischen Formen der Kriegführung über einen längeren Zeitraum unterschied sich der IS im engeren Sinn – als Organisation im Irak und Syrien – von ähnlichen oder unter gleichem Namen existierenden Formationen in anderen Ländern.
Im Juni 2014 verkündete der ISIS/ISIL darüber hinaus die Gründung eines »Kalifats«, das im historischen Rückgriff die Herrschaft über alle Muslime der Welt beansprucht, deren Zahl bei ungefähr 1,8 Milliarden, fast einem Viertel der Weltbevölkerung, liegt. Seither ist als Selbstbezeichnung nur noch der Name »Islamischer Staat« mit dem Kürzel IS gebräuchlich, während die internationalen Benennungen uneinheitlich sind.
Der irakisch-syrische IS, einschließlich seiner mehr oder weniger mit ihm verbundenen Ableger in Ländern wie Libyen, Somalia, Nigeria, Mosambik, Afghanistan oder Pakistan, stützt sich auf Anhänger der sunnitischen Richtung des Islam, der nach unterschiedlichen Definitionen 75 bis 90 Prozent aller Muslime angehören. Islam-Gläubige außerhalb der Sunna, darunter als größte Gemeinschaft die Schiiten, werden vom IS als »Ketzer« bekämpft. Das bevorzugte Mittel dabei sind massenmörderische Angriffe auf Moscheen, Märkte und Wohnviertel. Und wie die Anschläge vor einem Monat in Wien – die der IS zumindest für sich reklamierte – zeigen, ist auch die Bevölkerung im Westen weiterhin Ziel der Terroristen.
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