Trotz Mehrheit abgelehnt
Von Florian Sieber, Winterthur
Zwar wird gemeinhin angenommen, dass politische Entscheidungen in einer sogenannten direkten Demokratie direkt »vom Volk« gemacht werden. Der Entscheid zur »Konzernmitverantwortung« am Sonntag in der Schweiz zeigt jedoch, dass das mitnichten immer gilt. So scheiterte die Initiative, obwohl sich eine knappe Mehrheit der Wähler für die Vorlage ausgesprochen hatte. Abgestimmt wurde darüber, ob Schweizer Konzerne auch im Ausland zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards verpflichtet werden sollen.
Laut Endergebnis sprachen sich 50,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Initiative aus. Dass die Vorlage trotz dieses Ergebnisses nicht angenommen wurde, liegt am sogenannten Ständemehr. Dieses sieht vor, dass bei einer Volksabstimmung nicht nur die Mehrheit der Wähler für eine Initiative stimmen muss, sondern auch mehr als die Hälfte der Kantone gewonnen werden muss. 20 Kantone verfügen über eine »Standesstimme«, die sechs »Halbkantone« über eine halbe. Am Sonntag kamen nur 8,5 »Standesstimmen« für die Vorlage zusammen.
Im Vorfeld der Abstimmung hatten Umfragen ergeben, dass eine Mehrzahl der Befragten für die Initiative stimmen wollte. Wäre die Vorlage angenommen worden, hätten sich Schweizer Firmen vor Gericht verantworten müssen, wenn Tochterfirmen oder Zulieferer Umweltschutzstandards oder Menschenrechte nicht eingehalten hätten. Dagegen hatte es im Vorfeld von Unternehmerseite heftigen Widerstand gegeben. Der Wirtschaftsverband Economiesuisse beispielsweise bezeichnete die Initiative als »radikal, realitätsfremd und überheblich« und behauptete, sie setze Schweizer Konzerne unter Generalverdacht. Nun tritt ein Gesetz in Kraft, das von der Regierung bereits durch das Parlament gebracht wurde. Demnach sollen Schweizer Unternehmen zwar über die Aktivitäten ihrer Partner im Ausland wachen und Bericht erstatten. Die Bestrafung von Verstößen ist jedoch nicht vorgesehen.
Die Niederlage der »Konzernverantwortungsinitiative« hat die Debatten über das System des »Ständemehrs« entfacht. Gegner argumentieren, es könne nicht sein, dass die Stimmen der Bewohner ländlich geprägter Kantone, in denen die Bevölkerung zuverlässig rechts wählt, ein höheres Gewicht haben als die dichter besiedelter Kantone. Eine Stimme aus dem Kanton Uri mit seinen 36.400 Einwohnern wiegt etwa 39mal schwerer als die eines Zürchers.
An vorderster Front positioniert sich nun der Jugendverband der Sozialdemokraten, die Jusos, gegen das »Ständemehr«. In einer Pressemitteilung ihres Verbands erklärte die Vorsitzende Ronja Jansen noch am Sonntag: »Hier geht es nicht nur um die Abstimmungen diesen Abstimmungssonntag, sondern um die Abschaffung einer undemokratischen Regel aus vergangenen Tagen.« Auch die Grünen stellten sich hinter die Forderung. Eine Abschaffung des »Ständemehrs« könnte jedoch ironischerweise unter anderem deswegen schwer realisierbar sein, da dazu eine Mehrheit der Kantone für eben jene stimmen müsste.
Auch über einen zweiten Gesetzentwurf waren die Schweizer am Sonntag aufgefordert abzustimmen: das »Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten«. Doch wie die »Konzernverantwortungsinitiative« scheiterten die Initiatoren, 57,45 Prozent der Wählerinnen und Wähler lehnten die Vorlage ab. Die Befürworter wollten erreichen, dass Nationalbank, Stiftungen und Pensionskassen nicht mehr in Unternehmen investieren dürfen, die mehr als fünf Prozent Umsatz mit der Produktion militärischer Güter machen.
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