Deutsche Hirne
Von Arnold Schölzel
Auf Seite eins der FAZ resümiert Mitherausgeber Berthold Kohler am Freitag die Woche unter der Überschrift »Dank Trump … waren sich die Europäer einig. Doch schon geraten die Schwüre in Vergessenheit«. In aller Öffentlichkeit hätten sich der französische Staatspräsident und die deutsche Verteidigungsministerin darüber gestritten, »ob Europa sich selbst verteidigen könne und solle – also ohne Amerika«. Ohne USA gehe das nicht, weil, so Kohler, deutsche Komplettschwäche drohe: »Eher aber besteht Trump einen Lügendetektortest, als dass der Bundestag den Sozialetat zugunsten des Verteidigungshaushalts rasiert und den Verzicht Deutschlands auf Atomwaffen zurücknimmt.«
Ein Skandal, der nach Kohler letztlich nur durch deutsche Atomwaffen zu beenden ist. Die sind seine fixe Idee und die vieler anderer weiter oben. Fast auf den Tag genau vor vier Jahren, wenige Wochen nach Trumps Wahlsieg, brach das aus dem FAZ-Mann schon einmal heraus. Er verlangte, »das ganz und gar Undenkbare« zu denken. Für »deutsche Hirne« sei das »die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit, welche die Zweifel an Amerikas Garantien ausgleichen könnte.« Moskau rüste auf.
Aus Kohlers Sicht hat sich nichts geändert. Daher gibt er Macron recht – bis auf einen Punkt. Das Plädoyer des französischen Präsidenten für eine größere Unabhängigkeit Europas resultiere »aus der Wahrnehmung sich verändernder Interessen und Machtverhältnisse in der Welt – zuungunsten Europas«. Für eine Brutalität müsse man Trump daher dankbar sein, er habe »die Europäer (und ganz besonders die Deutschen) mit der Nase darauf (gestoßen), dass der Aufstieg Chinas die Welt verändert und Amerika neue Prioritäten hat«. Macrons »heftige Reaktion« auf Kramp-Karrenbauer lasse »sich nur mit der Sorge erklären, dass der deutsche Nachbar in den süßen Schlummer zurückfällt und von einer (nuklearwaffenfreien) Welt träumt, in der es wieder Onkel Joe richten wird, wenn irgend jemand den deutschen Peace-Gruß nicht erwidert«.
Mögen andere von »Ermächtigungsgesetz« oder »Merkel-Diktatur« delirieren, Kohler bleibt bei: »Berlin, werde atomwaffenhart.« Nicht zuletzt wegen Frankreich: »Der deutsch-französische Disput zeigt aufs neue, warum Europa sich so schwertut, mit ›einer Stimme‹ zu sprechen.« Hier die Atommacht mit kolonialer Vergangenheit, dort der »nukleare Habenichts« mit »doppeltem Kriegstrauma«. Das Problembewusstsein werde »noch lange nicht so einheitlich ›europäisch‹ – man könnte auch sagen: französisch – sein, wie Macron es sich wünscht«. Es muss, heißt die Botschaft, endlich deutsch werden.
Gesagt, getan. Auf Seite acht derselben Ausgabe fragt FAZ-Korrespondent Peter Carstens: »Rollt der deutsch-französische Kampfpanzer?«, und berichtet von Problemen zwischen den beteiligten Firmen beider Länder. Er zitiert aus einem vertraulichen Papier des Bundesverteidigungsministeriums: »Um der deutschen Führungsrolle dabei gerecht zu werden, ist ein Übergewicht bei deutschen Hauptauftragnehmern für die nationalen Schlüsseltechnologien durchzusetzen.« Denn europäisch soll es heißen, aber deutsch bleiben.
Eine »fixe Idee« definieren Lexika als »gravierende Denkstörung, die Wahngedanken ähnelt«. So gesehen, sind die Unterschiede in »deutschen Hirnen« zwischen den von Merkel ausgesandten »Impfmücken«, die am Mittwoch von demonstrierenden Halluzinierenden rund um den Reichstag gesichtet wurden, und »Übergewicht« bei Aufrüstung jeder Art nicht so groß. Das deutsche Großbürgertum arbeitet daran, dass beides zueinanderfindet. Wer sich fast nur noch für Corona interessiert, befasst sich nicht mit deutschen, pardon: europäischen Atomwaffen und Panzern.
Mögen andere von »Ermächtigungsgesetz« oder »Merkel-Diktatur« delirieren, Kohler bleibt bei: »Berlin, werde atomwaffenhart.« Nicht zuletzt wegen Frankreich.
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