Heldin einer taumelnden Welt
Von Cristina Fischer
Mathilde Franziska Anneke (1817–1884) war »eine der aktivsten Kämpferinnen für Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit in Deutschland und in den USA und eine der Begründerinnen der deutschen und amerikanischen Frauenbewegung«, heißt es im Vorwort zu dem Band »Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein«, der die während der wissenschaftlichen Tagung zu ihrem 200. Geburtstag in Sprockhövel gehaltenen Vorträge vereint.
Hervorzuheben wäre an erster Stelle die vorzügliche, akribische und inspirierende Abhandlung von Irina Hundt zum Forschungsstand, bei dem auch aktuelle Ergebnisse der Marx-Engels-Gesamtausgabe einbezogen werden, und zu den anstehenden Aufgaben. So ist die umfangreiche journalistische Tätigkeit Mathilde Annekes bisher noch kaum erschlossen. Viele Unterlagen befinden sich in abgelegenen Archiven, vor allem in den USA, wie der Nachlass der Annekes, sowie in nicht leicht zugänglichen Zeitungen und Zeitschriften.
Die historische Einzigartigkeit Mathilde Annekes, so urteilt Hundt, bestehe nicht nur in ihrer Aktivität für die Frauenemanzipation, sondern auch in ihrem sozialen, sozialistischen Engagement, in welchem sie über die meisten anderen 1848er Revolutionärinnen hinausging, da sie sogar für kommunistische Ideen aufgeschlossen war. Darin war sie völlig d’accord mit ihrem Mann Fritz Anneke, auch wenn beide in den letzten Jahren nicht mehr zusammenlebten.
Wilfried Korngiebel berichtet über die Beziehungen zwischen der Neuen Rheinischen Zeitung von Karl Marx und der Neuen Kölner Zeitung der Annekes in den Jahren 1848/49. Dabei standen ihm zwar leider nur wenige in deutschen Bibliotheken und Archiven verfügbare Ausgaben der NKZ zur Verfügung, aber es gelingt ihm, auf wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufmerksam zu machen. Kühn, aber nicht falsch ist seine Feststellung, Marx habe Mathilde Anneke quasi zu seiner »Erbin« ernannt, als er die Autoren der Neuen Rheinischen nach deren Verbot dazu aufforderte, künftig für die NKZ zu schreiben. Marx hat in einem Prozessbericht auch einmal eine längere Passage aus einem Artikel Mathildes zitiert. Er muss sie durchaus geschätzt haben.
Im übrigen legte die NKZ im Unterschied zur intellektuellen NRhZ größeren Wert auf ein armes und wenig gebildetes regionales Publikum aus »Bürgern, Bauern und Soldaten«, wie Korngiebel herausarbeitet. Mathilde Anneke, die die Zeitung über weite Strecken allein herausgeben musste, da ihr Mann verhaftet oder auf der Flucht war, sprach auch direkt ein weibliches Publikum an und wies auf die Schriften anderer Revolutionärinnen, wie Louise Aston und Louise Dittmar, hin.
Irmgard Stamm, die u. a. für die Erinnerungsstätte der Festung Rastatt tätig ist, schildert spannend und eindrücklich den Verlauf und das Scheitern des Badisch-Pfälzischen Feldzugs 1849 und die Rolle der Annekes bis zu deren Flucht aus der Festung.
Eher enttäuschend, weil wenig fundiert und daher spekulativ, ist Susanne Slobodzians germanistisch angestrengter Versuch über die zweifellos bemerkenswerten Frauenfreundschaften Mathildes anhand von drei Liebesbriefen.
Ebenfalls enttäuschend, dass der einzige der Autoren, der im Jahr der Tagung eine gewichtige Publikation zum Thema vorgelegt hat, nämlich die unveröffentlichten Briefe Mathilde Annekes an Franziska und Friedrich Hammacher, keinen Vortrag und auch keinen Aufsatz zu diesem Band beigesteuert hat, sondern lediglich sein Literaturverzeichnis. Dabei erschließt die Edition Erhard Kiehnbaums die hochinteressante und bisher kaum thematisierte Zeit Mathildes in der Schweiz (1860–1863), als sie u. a. mit Georg und Emma Herwegh verkehrte und sich für den italienischen Freiheitskämpfer Garibaldi begeisterte, während sie zugleich aus der Ferne und durch Berichte ihres Mannes auch den amerikanischen Sezessionskrieg kritisch verfolgte.
In der Ruhrgebietskleinstadt Sprockhövel sind eine Straße und eine Schule nach Mathilde Anneke benannt; zusammen mit der Nachbarstadt Hattingen wird der Anneke-Preis vergeben. Da die Kommune unter einer Haushaltssperre stand, wurde die vorliegende Publikation durch ein lokales Netzwerk von Sponsoren ermöglicht und zusätzlich durch das Ministerium für Familie, Kultur und Sport von NRW gefördert.
»Wir sind stolz auf diese Frau«, betont Bürgermeister Ulli Winkelmann (parteilos) in seinem Vorwort: »Wir leben in einer Zeit, die nach Vorbildern hungert. Die Deregulierungen in den letzten Jahrzehnten haben es mit sich gebracht, dass offenbar alles möglich ist, auch das Schlimmste (...) Im Zeitalter der Globalisierung hat nicht nur unser Land, sondern unsere ganze taumelnde Welt Helden im Sinne einer positiven Orientierung bitter nötig.«
Das Engagement Sprockhövels, besonders des Stadtarchivs unter Leitung von Karin Hockamp, für die »berühmteste Tochter« der Stadt ist äußerst lobenswert, doch wäre es zu wünschen, dass sich auch eine Großstadt wie Köln mehr in die Ehrungen einbringt, und dass die aufwendigen Forschungen intensiv von universitären Einrichtungen unterstützt werden.
Der Band ist im übrigen auch als ein Beitrag zum Jubiläum der Revolution von 1848/49 anzusehen. Das Gedenken an das Scheitern der ersten deutschen Revolution und an ihre Akteure, die hundertfach verfolgt und zur Auswanderung gezwungen wurden, steht auf der Tagesordnung. »Machen wir uns bewusst«, so Ulli Winkelmann, »dass Mathilde Anneke und ihre Mitstreiter für die Werte, die das Fundament unserer heutigen Gesellschaft bilden, ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Sie wurden geächtet, geschlagen, eingesperrt, vertrieben oder gar getötet.«
An den 200. Geburtstag von Fritz Anneke hat im vergangenen Jahr übrigens nur der WDR erinnert.
Karin Hockamp u. a. (Hg.): »Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein!« Mathilde Franziska Anneke. Demokratin, Frauenrechtlerin, Schriftstellerin. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung zu ihrem 200. Geburtstag in Sprockhövel. Westfälisches Dampfboot, Münster 2018, 155 S., 20 Euro
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