Gegründet 1947 Donnerstag, 25. April 2024, Nr. 97
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 02.01.2019, Seite 11 / Feuilleton
Edgar Hilsenrath (1926–2018)

Ein ewiger Geheimtip

Edgar Hilsenrath nannte sich einen »jüdischen Schriftsteller, der zufälligerweise deutsch schreibt«. Als Sohn eines Kaufmanns, der in Halle/Saale ein gutgehendes Möbelgeschäft betrieb, war Hilsenrath Anfang der 30er Jahre das einzige jüdisches Kind in seiner Schulklasse. Die Familie floh zu Verwandten nach Rumänien, wurde dort von den Faschisten in ein jüdisches Ghetto auf dem Gebiet der heutigen Ukraine deportiert, das 1944 durch so­wjetische Truppen befreit wurde. Hilsenrath ging nach Palästina, war dort Knecht und Tellerwäscher, wanderte 1951 nach New York aus, kam auch dort eher schlecht als recht über die Runden. Seit 1975 lebte er in der BRD, vor allem in Berlin.

2004 schrieb Robert Heinle in dieser Zeitung: »Trotz mehr als fünf Millionen verkaufter Bücher weltweit ist Hilsenrath ein weithin unbekannter Autor, ein ewiger Geheimtip. Der Erzähler fand zwar zeitweise Beachtung, wurde vom bürgerlichen Feuilleton jedoch nie so hofiert wie seine Kollegen Grass oder Walser.«

1964 war bei Kindler Hilsenraths Debütroman »Nacht« über die Zeit im Ghetto in Kleinauflage erschienen. Wahrgenommen wurde das Buch erst, nachdem Hilsenrath mit seinem zweiten Roman »Der Nazi & der Friseur«, der 1971 in übersetzter Fassung in den USA erschienen war, weltweit Erfolge gefeiert hatte. Er erzählt darin die fiktive Geschichte eines Nazimassenmörders, der nach 1945 unter dem Namen seines von ihm ermordeten jüdischen Jugendfreundes nach Palästina auswandert, um dort zum Volkshelden aufzusteigen. 60 deutsche Verlage lehnten dieses Manuskript ab – so dürfe man nicht über den Holocaust schreiben. »Ich glaube, die dachten, über den Holocaust darf man keine Satire schreiben«, sagte Hilsenrath 2007 im Gespräch mit jW. »Das ist ja keine Satire über den Holocaust, es ist eine Satire über einen Massenmörder.«

Das Buch erschien 1977 im kleinen Kölner Verlag Helmut Braun. Dieser habe ihn »praktisch in der Bundesrepublik durchgesetzt«, so Hilsenrath in dem jW-Gespräch. Braun ging 1978 pleite und Hilsenrath war bei vielen Verlagen, am längsten war er bei Dittrich in Köln, wo auch eine Edition seines Gesamtwerks erschien.

Auch in späteren Werken beweist Hilsenrath schwarzen Humor, ohne zynisch zu werden. »Fuck America – Bronskys Geständnis« erzählt von einem Holocaust-Überlebenden, der das Erlebte in den USA der frühen 60er literarisch zu verarbeiten sucht.

Am Sonntag ist Edgar Hilsenrath im Alter von 92 Jahren im Krankenhaus Wittlich (Rheinland-Pfalz) an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben, wie seine Ehefrau Marlene am Dienstag be­stätigte.

(dpa/jW)

Ähnliche:

  • Sagt ein Spider-Man zum anderen: »Es gibt immer irgendeinen Hebe...
    31.12.2018

    Listen der Vernunft

    Jahresrückblick 2018. Heute: Die besten Platten, Filme, Bücher, Theaterstücke, Comics, Fußballtrainer
  • Präsentation einer Liste mit Namen von 1.540 Menschen, deren Gut...
    11.08.2018

    Namenlose Konten

    Vor 20 Jahren einigten sich Schweizer Banken und der Jüdische Weltkongress über den Umgang mit Bankguthaben von Naziopfern
  • Unerwünscht. Jüdische Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei, die ...
    29.03.2018

    »Komplizen der Mörder«?

    Vor allem in den USA haben sich Historiker mit der Frage beschäftigt, ob die Alliierten zu wenig getan haben, den Völkermord an den Juden zu verhindern. Dazu gehörte auch der jüngst verstorbene David S. Wyman. Anmerkungen zu einem Streitthema

Regio:

Mehr aus: Feuilleton