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Aus: Ausgabe vom 01.04.2016, Seite 11 / Feuilleton

Imre Kertesz gestorben

Der ungarische Schriftsteller Imre Kertesz ist tot. Er starb am Donnerstag im Alter von 86 Jahren nach langer Krankheit in seiner Wohnung in Budapest. 2002 war er der erste Ungar, der mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Die Jury würdigte damals sein Werk, »das die zerbrechliche Erfahrung des einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet«. In seiner Dankesrede begegnete Kertesz dem vor allem in Ungarn oft gegen ihn erhobenen Vorwurf, er habe nur ein einziges Thema, mit der Gegenfrage: »Welcher Schriftsteller ist heute nicht ein Schriftsteller des Holocaust?« In seinem schon damals politisch stark nach rechts driftenden Heimatland gab es daraufhin vielerlei Schmähungen. Diesen Kontrast zur internationalen Würdigung bezeichnete Kertesz 2009 in einem Interview mit der Welt als »Glückskatastrophe«.

Kertesz wurde 1929 in Budapest als Kind einer jüdischen Familie geboren. Als Jugendlicher überlebte er die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Diese Erfahrungen flossen in sein Debüt- und zugleich Hauptwerk ein, den 1975 veröffentlichten »Roman eines Schicksallosen«, an dem er 13 Jahre lange gearbeitet hatte. 1990, in den letzten Tagen der DDR, erschien er erstmals auf deutsch unter dem Titel »Mensch ohne Schicksal« bei Rütten und Löning. Doch erst die 1996 veröffentlichte autorisierte Neuübersetzung bei Rowohlt Berlin wurde ein großer Erfolg. Mittlerweile gilt das Buch als eines der bedeutendsten Erzählwerke über den Holocaust. Darin zeichnet Kertesz so prosaisch wie sensibel den Leidensweg eines 15jährigen Jungen nach, der zunächst nach Auschwitz-Birkenau, dann nach Buchenwald und Zeitz deportiert und nach seiner Befreiung in Budapest mit dem Unverständnis der Menschen konfrontiert wird. Für den Autor war dies eine Form »absurder Literatur«. Für die Zeit sprengte dieser Roman »alle bekannten literarischen Codes und steht einzigartig in der Landschaft der europäischen Nachkriegsliteratur«, gerade durch den »unschuldigen, beinahe unliterarischen Ton« und den »Verzicht auf Brillanz, auf jede Art der literarischen Überhöhung und Ausschmückung«.

In den 70er Jahren war das Buch in Ungarn mehr oder weniger totgeschwiegen worden, erst 1985 erfuhr Kertesz hierfür Anerkennung. Diese Erfahrung hat er 1988 in dem Buch »Fiasko« verarbeitet. 1990 erschien»Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«, das von den Gefühlen eines Holocaustüberlebenden handelt – in Form des Trauergebets eines Schriftstellers, der nach Auschwitz kein neues Leben mehr zeugen will. Für die Frankfurter Rundschau ist Kertesz’ Werk ein »Monument des geschundenen Menschen und des befreiten Denkens«. (dpa/jW)

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