Leserbrief zum Artikel Ende der Sowjetunion: Provozierte Opfer
vom 09.01.2021:
Schwerer Schlag für Faschisten
Kommentar jW:
Auf diesen Leserbrief antwortete unser Autor Reinhard Lauterbach:
Sehr geehrter Herr Hesse,
Vielen Dank für Ihren Leserbrief! Natürlich, es gibt diese sowjetische offizielle Sichtweise auf die Ereignisse von 1940, die Sie zitieren. Aber ich halte diese Darstellung aus folgenden Erwägungen heraus für historisch wenig plausibel:
– Die baltischen Staaten der Zwischenkriegszeit hatten eine lange reaktionäre bzw. im lokalen Kontext auch direkt konterrevolutionäre Tradition, das stimmt. Man kann zu Recht feststellen, dass sie ihre jeweilige Existenz dem Sieg der Konterrevolution in den Jahren 1918–20 verdankten. Warum also sollten im Frühjahr 1940 plötzlich die kommunistischen Parteien »aus der Illegalität gekommen« sein, in die sie ja vorher auch nicht freiwillig gegangen waren? Und dies, ohne sich vor Repressalien der Staatsmacht zu fürchten? Öffentlich war ja, wie gesagt, die Abgrenzung der Interessensphären im Ribbentrop-Molotow-Pakt und dem einen Monat später abgeschlossenen deutsch-sowjetischen »Freundschaftsvertrag« (so hieß der offiziell wirklich, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Sowjetischer_Grenz-_und_Freundschaftsvertrag !) nicht bekannt. Da scheint es mir eher wahrscheinlich, dass die sowjetische Führung die baltischen Genossen im Untergrund aufgefordert hatte, aus demselben zu kommen, mit der Zusage, dass man durch Druck aus Moskau schon verhindern werde, dass ihnen irgend etwas geschehe.
– Wenn es im Frühjahr 1940 so einen enormen Aufschwung des »revolutionären Bewusstseins« gegeben haben soll – wie erklären Sie sich dann, dass gerade ein Jahr später, nach dem deutschen Einmarsch, große Teile zumindest der litauischen und lettischen Bevölkerung – in Estland war das mangels potentieller Opfer nicht so ausgeprägt – sehr aktiv an der Vernichtung der örtlichen Juden teilgenommen und den Deutschen einige Arbeit abgenommen haben?
Mir ist der baltische Nationalismus herzlich egal und sogar ausgesprochen unsympathisch – aber man muss deshalb nicht Rechtfertigungsideologien nachplappern, die sich historisch diskreditiert haben. Die Sowjetunion war in ihrer Außenpolitik wenig zimperlich und nur sehr selten von irgendwelchen revolutionären Prinzipien geleitet – vgl. die Auslieferung geflohener deutscher Kommunisten an die Gestapo in dieser Periode des Arrangements.
Mit freundlichem Gruß
Reinhard Lauterbach