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Leserbrief zum Artikel Ende der Sowjetunion: Provozierte Opfer vom 09.01.2021:

Schwerer Schlag für Faschisten

Reinhard Lauterbach schreibt, dass (…) der Zwang zum Beitritt zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (…) von der Bevölkerung der drei baltischen Republiken als Okkupation empfunden worden sei, die dann ein halbes Jahrhundert angedauert habe. Es gibt hierüber natürlich auch eine andere Darstellung, nämlich dahingehend, dass es im Jahr 1940 in den baltischen Republiken zu Protestkundgebungen gekommen war, die sich gegen die reaktionäre und verräterische Politik der bürgerlichen Regierungen richteten. Die Kommunistischen Parteien kamen aus ihrer Illegalität und beseitigten gemeinsam mit den Volksmassen die Macht der bürgerlichen Regierungen. In allen drei Republiken kamen volksdemokratische Regierungen an die Macht, und am 14. und 15. Juli fanden Wahlen zu den Volksversammlungen Lettlands und Litauens sowie zur Staatsduma Estlands auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts und bei geheimer Stimmabgabe statt. Und bei diesen Wahlen errang in allen drei Republiken der von den kommunistischen Parteien geführte Bund des Werktätigen Volkes den Sieg. Daraufhin, in Erfüllung des Wählerwillens, proklamierten die Volksversammlungen – bzw. die Staatsduma Estlands – im Juli 1940 in ihren Republiken die Wiederherstellung der im Jahre 1919 von der einheimischen Bourgeoisie mit Hilfe der ausländischen Interventen liquidierten Sowjetmacht und beschlossen, den Obersten Sowjet der UdSSR zu bitten, die neuen Sowjetrepubliken in den Verband der UdSSR aufzunehmen. Dem wurde in der VII. Tagung des Obersten Sowjets am 3. August 1940 entsprochen. Die Bildung der drei baltischen Sowjetrepubliken und deren Aufnahme in den Verband versetzten den aggressiven Plänen der deutschen Faschisten einen schweren Schlag. Dies wirkte sich günstig auf die Mächte aus, die sich bereits im Krieg mit Deutschland befanden, wie beispielsweise Großbritannien. Diese Umstände und Tatsachen hätten selbstverständlich (…) von Reinhard Lauterbach erwähnt und berücksichtigt werden müssen. Und: Zum Thema »1919« gäbe es da noch viel mehr zu berichten, zum Beispiel über das unsägliche Wirken von »Ober Ost« (Oberbefehlshaber Ost). Dass sich gerade in diesen Republiken zur »Wendezeit« die westliche Wühltätigkeit intensivierte, sowjetfeindliche Kräfte gestärkt wurden und wieder offen Kriegshetze betrieben wurde – und heute noch wird –, was übrigens nach den Gesetzen der UdSSR eine Straftat war, ist klar.
Rainer Hesse, Dresden

Kommentar jW:

Auf diesen Leserbrief antwortete unser Autor Reinhard Lauterbach:

Sehr geehrter Herr Hesse,

Vielen Dank für Ihren Leserbrief! Natürlich, es gibt diese sowjetische offizielle Sichtweise auf die Ereignisse von 1940, die Sie zitieren. Aber ich halte diese Darstellung aus folgenden Erwägungen heraus für historisch wenig plausibel:
– Die baltischen Staaten der Zwischenkriegszeit hatten eine lange reaktionäre bzw. im lokalen Kontext auch direkt konterrevolutionäre Tradition, das stimmt. Man kann zu Recht feststellen, dass sie ihre jeweilige Existenz dem Sieg der Konterrevolution in den Jahren 1918–20 verdankten. Warum also sollten im Frühjahr 1940 plötzlich die kommunistischen Parteien »aus der Illegalität gekommen« sein, in die sie ja vorher auch nicht freiwillig gegangen waren? Und dies, ohne sich vor Repressalien der Staatsmacht zu fürchten? Öffentlich war ja, wie gesagt, die Abgrenzung der Interessensphären im Ribbentrop-Molotow-Pakt und dem einen Monat später abgeschlossenen deutsch-sowjetischen »Freundschaftsvertrag« (so hieß der offiziell wirklich, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Sowjetischer_Grenz-_und_Freundschaftsvertrag !) nicht bekannt. Da scheint es mir eher wahrscheinlich, dass die sowjetische Führung die baltischen Genossen im Untergrund aufgefordert hatte, aus demselben zu kommen, mit der Zusage, dass man durch Druck aus Moskau schon verhindern werde, dass ihnen irgend etwas geschehe.
– Wenn es im Frühjahr 1940 so einen enormen Aufschwung des »revolutionären Bewusstseins« gegeben haben soll – wie erklären Sie sich dann, dass gerade ein Jahr später, nach dem deutschen Einmarsch, große Teile zumindest der litauischen und lettischen Bevölkerung – in Estland war das mangels potentieller Opfer nicht so ausgeprägt – sehr aktiv an der Vernichtung der örtlichen Juden teilgenommen und den Deutschen einige Arbeit abgenommen haben?
Mir ist der baltische Nationalismus herzlich egal und sogar ausgesprochen unsympathisch – aber man muss deshalb nicht Rechtfertigungsideologien nachplappern, die sich historisch diskreditiert haben. Die Sowjetunion war in ihrer Außenpolitik wenig zimperlich und nur sehr selten von irgendwelchen revolutionären Prinzipien geleitet – vgl. die Auslieferung geflohener deutscher Kommunisten an die Gestapo in dieser Periode des Arrangements.

Mit freundlichem Gruß

Reinhard Lauterbach

Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.01.2021.
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