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Leserbrief zum Artikel Yad Vashem: Nichts aus der Geschichte gelernt vom 24.01.2020:

Unterschiedliche Erinnerungskulturen

Beim Gedenken an die Shoah (den Holocaust) – und überhaupt in der Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus – beobachte ich seit Jahrzehnten, wie viele sich davon genervt fühlen. Ich meine, das liegt meistens nur in einem kulturellen Unterschied begründet. Mir war bei einem Gespräch zwischen dem jüdischen Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel und dem US-amerikanischen Baptistenpastor und Bürgerrechtler Jesse Jackson aufgefallen, dass das jüdische Denken einen starken Erinnerungscharakter hat, also der Vergangenheit sehr großen Wert beimisst. Das Judentum in der Diaspora hat immer die Erinnerung an seine Herkunft bewahrt. Es lebt aus der Vergangenheit. Dagegen war das Denken des Christen ganz auf Zukunft und Hoffnung ausgerichtet. Im Christentum wird mit der Sündenvergebung immer wieder ein neuer Beginn gesetzt und nach vorne geblickt. Wichtig ist das Kommende.
Das Erinnern überfordert die einen, und diese Überforderung entsetzt die anderen. Wir sollten diesen Unterschied mitbedenken, um nicht bei der kleinsten Unmutsregung schon »Nazi!« zu schreien. Es ist für uns ungewohnt und unangenehm, in eine sehr dunkle Vergangenheit blicken zu müssen. Das sollte außerdem ohne Moralisieren und Belehrung geschehen (angesichts der unsäglichen Greuel ohnehin unnötig), damit autonome Persönlichkeiten frei eigene Schlüsse ziehen können. Sonst wird leicht eine unbewusste Gegenbewegung provoziert, um die Autonomie der Person wiederherzustellen, und nach Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung eine irrational verursachte und erst danach (vermeintlich) »rational« begründete antisemitische Gegenposition bezogen.
Wir brauchen ein Bewusstsein und Verständnis für unsere kulturell verschiedenen Denkweisen und einen aufgeklärten Sinn dafür, das Vergangene zwar ernstzunehmen, aber Gegenwart und Zukunft davon nicht verfinstern zu lassen. Geschichte ist Aufarbeitung statt Verdrängung. Nur wer sie aufgearbeitet hat, hält die Erinnerung an sie aus.
Joel Klink, Göttingen
Veröffentlicht in der jungen Welt am 27.01.2020.
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