Queere Kämpfe instrumentalisiert
Von Bloque Latinoamericano Berlin
Die Gewalt gegen queere Menschen – insbesondere gegen trans und nichtweiße Personen – nimmt zu. Queere Körper sind in Zeiten der Krise und des Vormarsches des Faschismus weiterhin ein politisches Schlachtfeld. Die Instrumentalisierung und zunehmende Unterdrückung von »Disidencias sexo-genéricas« (Menschen, die die sexuellen und geschlechtlichen Normen herausfordern) sind miteinander verflochten.
In Argentinien, einem Land, das auf dem lateinamerikanischen Kontinent Pionierarbeit bei Maßnahmen wie der Anerkennung der Geschlechtsidentität in offiziellen Dokumenten geleistet hat, wurde der Rückschritt von der Regierung Javier Mileis zur Staatspolitik gemacht. Beispiele wie die Auflösung des Ministeriums für Frauen, Geschlechter und Vielfalt oder das Verbreiten von Falschinformationen, die queere Menschen fälschlicherweise mit Sexualdelikten in Verbindung bringen, zeigen, dass das Ziel des reaktionären Projekts klar ist: das, was von unserer Existenz übriggeblieben ist, auszulöschen und zu kriminalisieren. Und selbst in Ländern, die von als progressiv geltenden Regierungen geführt werden, wie Brasilien, Mexiko und Kolumbien, hält die strukturelle Gewalt gegen Disidencias an. Trotz der auf dem Papier bestehenden Gesetze, die Schutz versprechen, belegen die Daten und Erfahrungen von queeren Menschen eine Realität, in der Straflosigkeit, Diskriminierung und Tod allgegenwärtig sind. Brasilien führt weiterhin die weltweiten Statistiken zu Morden an trans Personen an; in Mexiko war das Jahr 2024 das gewalttätigste aller Zeiten für queere Menschen, und in Kolumbien wurde 2024 die höchste Zahl an Morden an queeren Personen in ganz Lateinamerika verzeichnet.
Auch in Berlin nimmt Gewalt gegen Disidencias zu, zuletzt zum Beispiel in Form einer Reihe von Angriffen auf Orte queerer Menschen. Während der queeren Demonstrationen für Palästina in den vergangenen Jahren wurden Protestierende von der Polizei brutal unterdrückt, und staatliche Diskurse, die sich gegen jede institutionelle Sichtbarkeit unserer Identitäten stellen, verfestigen sich weiter. Die jüngste Rede von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), in der er das Verbot von Regenbogenflaggen auf Regierungsgebäuden damit begründete, der Bundestag sei »kein Zirkus«, spiegelt den Trend wider, Angriffe gegen queere Menschen zu normalisieren. Es wird darauf abgezielt, unsere Existenz und unsere Körper unsichtbar zu machen und im Namen der »institutionellen Neutralität« eine heterosexuelle und binäre geschlechtliche Ordnung zu festigen. Hier wird sichtbar, wie selbst in Städten, die als queerfreundlich gelten, der Staatsapparat mit Gewalt reagiert, wenn die hegemoniale Ordnung in Frage gestellt wird.
Neoliberale Scheininklusion
Gewalt gegen Disidencias ist kein Fehler des Systems, sondern ein integraler Bestandteil seiner Funktionsweise, seines Räderwerks. Der patriarchale Kapitalismus schafft eine rigide Struktur und Rollenverteilung – die Kernfamilie, die Form der Reproduktion der Arbeitskraft zum Erhalt des Privateigentums und seiner Akkumulation –, die definieren, wer nützlich und wer entbehrlich ist. Die Nichteinhaltung dieser Norm durch trans, nichtbinäre oder rassifizierte Menschen wird als Bedrohung der etablierten Ordnung angesehen. So wird Queerness – das Unterwandern dieser Normen – zur Angriffsfläche; ihre Auslöschung entspricht den Interessen des Kapitals, denn dieses benötigt regulierte Körper, normalisierte Affekte und Subjekte, die seiner Akkumulationslogik dienen.
Dieses System marginalisiert und kriminalisiert nicht nur Disidencias, sondern reduziert sie auch zu einem Spektakel, um die patriarchale Ordnung zu legitimieren. Die Verwaltung unserer Identitäten als Ware – sei es in bezug auf Ästhetik, Sexualität oder Kulturkonsum – erzeugt eine Scheininklusion, die die bestehenden Hierarchien nicht destabilisiert, sondern bekräftigt. Die queere Ästhetik wird angeeignet, ihres politischen Inhalts beraubt und als Teil des neoliberalen Spektakels wieder eingesetzt, wo Queerness nur insoweit erlaubt ist, als sie die soziale Ordnung nicht stört. In diesem Rahmen werden queere Existenzen sowohl zur Stärkung der Privilegien der herrschenden Klassen benutzt als auch als Sündenböcke instrumentalisiert, um im Dienst autoritärer Projekte soziale Ängste zu kanalisieren. Wir sehen dies deutlich daran, wie das Kapital fluchtartig die Pride verlässt, sobald diese nicht mehr rentabel ist. In Berlin haben sich die großen Sponsoren zurückgezogen: Ihre Unterstützung war nie eine Frage der Überzeugung, sondern des Profits.
Bomben in falschem Namen
Gegen diese Vereinnahmung formiert sich jedoch Kritik; Kritik an individualisierenden Diskursen, die uns entlang von Identitäten spalten, und an der Kommerzialisierung queerer Kämpfe und Körper. Regenbogenfarbene Produkte ersetzen keine Rechte – diese wurden durch kollektive Bewegungen und nicht durch Corporate Sponsoring erkämpft. Doch heute wird queere Emanzipation auch abseits ihrer Kommerzialisierung missbraucht: als Rechtfertigung für Imperialismus und koloniale Gewalt.
Besonders deutlich wird das im Fall Israels, das sich als »progressiver Schutzraum« für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten inszeniert, während es gleichzeitig einen Völkermord in Palästina verübt. Ähnlich absurd ist die Behauptung, feministische oder queere Befreiung im Iran lasse sich durch Bomben erreichen. Besatzung kann nicht zu Befreiung führen. Echte Solidarität heißt: keine Waffen, keine Mauern und keine Kriege im Namen marginalisierter Gruppen. Und vor allem: keine Illusionen darüber, wer von diesen Machtspielen wirklich profitiert.
Anstatt Sündenbock oder diskursives Instrument der Rechten zu sein, kann und muss das Queersein eine verbindende Kraft für Kämpfe von unten werden. Wir haben es in Argentinien gesehen, wo nach Mileis hasserfüllter Rede gegen soziale Bewegungen, Feminismus und Disidencias auf dem Davos-Forum die linke queere Gemeinschaft eine der größten Mobilisierungen der vergangenen Jahre organisiert und koordiniert hat. Mehr als zwei Millionen Menschen, darunter Gewerkschaften, feministische und indigene Organisationen sowie junge Menschen in prekären Verhältnissen, gingen auf die Straße. Es war kein Marsch der »Identität«: Es war eine Demonstration dafür, dass Queerness auch Klasse, Wut und Organisation bedeutet.
Queerer Klassenkampf
Die weltweite Rechtswende zeigt in erschreckender Deutlichkeit: Errungenschaften queerer Bewegungen stehen auf dem Spiel – und das nicht nur unter offen reaktionären Regimen. Während Regierungen wie die von Milei in Argentinien aktiv queerfeindliche Politik betreiben, offenbart selbst der vermeintlich »liberale« Westen sein Versagen: Wo Polizeigewalt gegen Pride-Demonstrationen eskaliert und Parteien wie die CDU queerfeindliche Rhetorik salonfähig machen, wird deutlich, dass strukturelle Gewalt kein regionales, sondern ein globales systemisches Problem ist.
Die Herausforderung ist klar: In einer Zeit, in der Rechte weltweit an Boden gewinnen, muss queere Emanzipation antikapitalistisch und internationalistisch gedacht werden. Es reicht nicht, gegen einzelne Gesetze zu kämpfen – es geht darum, das System herauszufordern, das erst die Bedingungen für Faschisierung schafft. Die Verbindung von queeren Kämpfen mit antirassistischen, antiimperialistischen und Bewegungen der armen und arbeitenden Bevölkerung ist nicht nur eine Option, sie ist überlebensnotwendig. Denn solange der Kapitalismus seine Krisen auf dem Rücken marginalisierter Gruppen austrägt, bleibt jede Teilbefreiung unvollständig.
Der Bloque Latinamericano Berlin ist eine 2018 gegründete linke internationalistische Organisation. Sie ist aktiv in der Solidarität mit emanzipatorischen Kämpfen Lateinamerikas und der Organisierung von aus Lateinamerika migrierten Menschen in Deutschland
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