Guatemalas erster Frühling
Von Thorben Austen, Quetzaltenango
»Der Papa von Arévalo hat das IGSS gebaut«, erzählte mir mein neunjähriger Sohn vor ein paar Wochen seine neuesten Erkenntnisse aus dem Sozialkundeunterricht. Tatsächlich ist die Schaffung des Guatemaltekischen Institutes für Soziale Sicherheit (IGSS) und der dadurch entstandenen Krankenhäuser eine der bekanntesten sozialen Errungenschaften der Regierung von Juan José Arévalo (1945–1951). Mit seiner Politik machte er sich mächtige Feinde im In- und Ausland, die ihn wiederholt stürzen wollten.
Juan José Arévalo, Vater des aktuellen Staatspräsidenten Bernardo Arévalo, gewann die Wahlen nach der Revolution vom Oktober 1944 im Dezember desselben Jahres mit 86 Prozent der Stimmen. Er war erst am 3. September nach Guatemala zurückgekehrt, die Repression unter Diktator Jorge Ubico zwang ihn 1937 ins argentinische Exil. Allgemein gelten die Wahlen als die ersten freien und demokratischen in Guatemala. Das Volk als Ganzes durfte allerdings noch nicht abstimmen. Zwar wurde erstmals für Frauen ein aktives und passives Wahlrecht eingeführt, Indigene und Analphabeten beider Geschlechter waren aber vom Wahlprozess ausgeschlossen. Von den damals knapp 2,4 Millionen Einwohnern hatten nur gut 310.000 die vollständigen Bürgerrechte und waren ins Wahlregister eingetragen, genau 296.214 gaben bei den Wahlen ihre Stimme ab. Erst mit der Verfassung von 1985, die nach Jahrzehnten der Rückschritte in Form von Putschen, Diktatur und Bürgerkrieg den Beginn der Rückkehr zur bürgerlichen Demokratie regelte, erhielten alle Guatemalteken die gleichen Bürgerrechte.
Wegweisende Sozialgesetze
Nach dem Wahlsieg und seinem Amtsantritt im März 1945 versuchte Arévalo umgehend, ein soziales und politisches Reformpaket umzusetzen: Im Oktober 1946 beschloss das Parlament das eingangs erwähnte Dekret 295, das Gesetz des Guatemaltekischen Instituts für Soziale Sicherheit. Es sollte langfristig für alle Guatemalteken den Zugang zu guter Gesundheitsversorgung sicherstellen.
1947 setzte Arévalo dann ein neues Arbeitsgesetz durch, das dem sogenannten Landstreichergesetz von 1934 ein Ende setzte. Dieses hatte Indigene zu bis zu 150 Tagen Zwangsarbeit im Jahr auf den großen Fincas verpflichtet. Des weiteren wurden in dem Gesetz der Achtstundentag, der Mindestlohn, der arbeitsfreie Sonntag und das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung festgelegt sowie die Kinderarbeit verboten. Besonderen Wert legte der gelernte Lehrer Arévalo auf die Bildungspolitik. In seiner Amtszeit wurden Fortschritte bei Alphabetisierungskampagnen erzielt, er eröffnete Abendschulen für Arbeiter, und es gab Fortschritte in der ländlichen Bildung und Lehrerausbildung.
Auf politischer Ebene konnte sich die 1922 gegründete und unter Ubico praktisch zerschlagene Kommunistische Partei Guatemalas (PCG) reorganisieren und 1949 einen ersten legalen Kongress abhalten. Arévalos Amtszeit, die er selbst als »spirituellen Sozialismus« oder »moderne Sozialdemokratie« bezeichnete, endete turnusgemäß 1951.
Immer kurz vor dem Sturz
Während der Putsch gegen Arévalos Nachfolger Jacobo Árbenz im Juni 1954 auch außerhalb Guatemalas Bekanntheit erlangte, sind die Dutzenden bewaffneten Angriffe auf seinen Vorgänger den wenigsten ein Begriff. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt gingen die Attacken auf Arévalo überwiegend von Anhängern des gestürzten Diktators Ubico aus; Unterstützung erhielten sie hierbei von den diktatorisch regierten Nachbarländern El Salvador, Honduras und Nicaragua. Ab etwa 1930 hatten sich in den zentralamerikanischen Staaten – nach zarten demokratischen Versuchen in den 1920er Jahren – erneut autoritäre Regime entwickelt, am bekanntesten die jahrzehntelange Diktatur der Familie Somoza in Nicaragua.
Ab 1948 verstärkten sich dann die Angriffe von seiten nationaler und internationaler Unternehmen gegen die Regierung Arévalo. Im November 1948 wurden in der Hauptstadt und in der Ortschaft Zunil im Südwesten des Landes Waffendepots von mutmaßlichen Putschisten entdeckt, nahezu zeitgleich fanden Gewerkschafter militärische Ausrüstung in einem Eisenbahnwaggon des Bananenunternehmens United Fruit Company. Erstmals traten Gewerkschaften in jenen Jahren als politischer Akteur in Erscheinung, nahmen selbst Putschisten fest und forderten die Bewaffnung des Volkes.
Ab 1949 war die Armee bis in die höchsten Stellen an den Putschversuchen beteiligt. Außerdem spitzten sich der internationale Druck und der Konflikt mit den USA zu. Der chilenische Botschafter in Guatemala schrieb 1949 öffentlich, »Arévalo sympathisiere mit den Kommunisten«, der argentinische Botschafter sah im gleichen Zeitraum einen »Anstieg kommunistischer Propaganda in Guatemala«, der nach dem »Besuch ausländischer notorischer Kommunisten« erfolgt sei. Richard Patterson, ab 1948 US-Botschafter in Guatemala, erklärte, man könne nur »für die Demokratien oder für die Kommunisten sein«. 1951 wurde er wegen Treffen mit oppositionellen Gruppen des Landes verwiesen.
Der letzte Putschversuch gegen Arévalo erfolgte im November 1950, beteiligt war der Offizier Carlos Castillo Armas, im Juni 1954 führender Kopf beim Sturz von Arévalos Nachfolger Árbenz. Die Wahlen, ebenfalls im November 1950, gewann dieser deutlich mit mehr als 65 Prozent der Stimmen. Der Oppositionskandidat Miguel Idígoras Fuentes, der Guatemala nach dem Putsch von 1958 bis 1963 diktatorisch regierte, kam auf 18,7 Prozent. Mit dem Amtsantritt von Árbenz im März 1951 erhofften sich die Guatemalteken eine Vertiefung der Revolution vom Oktober 1944. Bis zu seinem Sturz blieben ihm noch genau drei Jahre, drei Monate und zwölf Tage, dann endeten die ersten zehn demokratischen Jahre Guatemalas mit blutiger Gewalt. Arévalo erreichte die Nachricht vom Putsch in Chile, er blieb Jahrzehnte im Exil. Erst 1978 konnte er nach Guatemala zurückkehren und starb am 8. Oktober 1990 im Alter von 86 Jahren.
Großes Erbe
Der überraschende und hart umkämpfte Wahlsieg seines Sohnes Bernardo Arévalo Ende 2023 hat bei vielen Guatemalteken die Erinnerung an die Revolutionsjahre ab 1944 wieder aufflammen lassen. Viele der sozialen Errungenschaften jener Jahre sind nach Jahrzehnten der Diktatur und durch das in den 1990er Jahren gefestigte neoliberale Wirtschaftssystem verschwunden. So hatten Ende 2022 gerade mal 1,5 der knapp 18 Millionen Einwohner Zugang zum IGSS. Gewerkschaften existieren fast nur noch im öffentlichen Dienst, und trotz offiziellen Verbotes gehen Hilfsorganisationen von knapp einer Million arbeitenden Kindern aus – davon etwa 600.000 in der Landwirtschaft. Formell ist ein Achtstundentag bei einer Sechstagewoche gesetzlich verankert, dies wird in vielen Fällen aber weder eingehalten noch reicht ein einziger Job zum Leben.
Bernardo Arévalo hatte, neben der Korruptionsbekämpfung, die Verbesserung des öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems zu seinem zentralen Wahlversprechen 2023 gemacht. Tatsächlich hat seine Regierung mit Instandhaltungen und Renovierungen von Schulen begonnen, für 2025 Gehaltserhöhungen von bis zu zehn Prozent durchgesetzt – die allerdings nur der Minderheit der formell Beschäftigten zugute kommen – und kündigte im Mai den Bau von drei neuen Krankenhäusern an. Dennoch bleibt seine Sozialpolitik in den Augen vieler Guatemalteken deutlich unter den Erwartungen.
Thorben Austen ist junge Welt-Korrespondent in Guatemala mit Schwerpunkt für die Region Mittelamerika
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