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Aus: Unser Amerika, Beilage der jW vom 23.07.2025
Verschollene Alternativen

Eine kurze Geschichte Paraguays

Nach Kolonisierung durch Europäer ging das Land einen Sonderweg – aber die Nachbarstaaten rächten sich mit Völkermord und Unterdrückung
Von Yvyty Jára Guasu
Auf dem Friedhof in San Juan Chamula werden Rituale durchgeführt, die katholische Elemente mit Maya-Traditionen mischen (8.10.2024)
Ein traditionelles Fest in San Juan Chamula: Hier vermischen sich Katholizismus und der Glaube der indigenen Tzotzil (8.10.2024)

Im Jahr 1516 des Julianischen Kalenders erreichte ein gewisser Juan Díaz de Solís, ein spanischer Seefahrer, den Fluss Paraná-Guazu und benannte ihn nach sich selbst. Nicht wissend, dass der Italiener Amerigo Vespucci ihn 1502 bereits auf den Namen Rio Jordan getauft hatte. Auch wenn die Namen unterschiedlich waren, glichen sich de Solís und Vespucci in ihrer Arroganz, das Land zu beanspruchen – als hätten dort nicht bereits Menschen gelebt.

Aufgrund des Vertrags von Tordesillas von 1494, mit dem Spanien und Portugal »die unzivilisierte Welt« unter sich aufteilten, nahm de Solís das Gebiet nicht in Besitz – aus Angst, auf portugiesisches Territorium zu geraten. 20 Jahre später, als klar war, dass sich die Portugiesen nicht für die Inbesitznahme ihres Gebiets interessierten, und aus Sorge, dass ihm jemand zuvorkommen könnte, kaufte Pedro de Mendoza vom spanischen König den Titel des Gouverneurs von Nueva Andalucía. Zusammen mit spanischen, portugiesischen und deutschen Abenteurern sowie staatenlosen Abtrünnigen drangen sie in das Gebiet ein, das heute als Paraguay, Uruguay und Argentinien bekannt ist, und nahmen es in Besitz.

Während etwas weiter nördlich Konquistadoren dieses Schlags verzweifelt nach dem mythischen El Dorado suchten, waren andere Kolonisten im Süden von ebenso extravaganten Legenden angezogen: El Rey Blanco (der weiße König), la Ciudad de los Césares (die kaiserliche Stadt), der Stadt aus Silber. Daher stammen die Namen Argentinien (vom lateinischen Argentum für Silber) und Rio de la Plata (Fluss des Silbers).

Jesuiten der Zeit voraus

Von 1580 bis 1640 wurde der Vertrag von Tordesillas aufgrund der dynastischen Union zwischen Spanien und Portugal aufgehoben. Die spanische Krone beanspruchte das gesamte Gebiet. Im Jahr 1580 erhielten die Jesuiten von ihr die Erlaubnis, Siedlungen – sogenannte Reducciones – mit politischer und militärischer Gerichtsbarkeit zu gründen. Sie errichteten 30 Reducciones der indigenen Guaraní in einem ausgedehnten Gebiet, das heute zu Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien gehört. In den Siedlungen wurden die kolonialen Zwangsarbeitssysteme Mita und Encomienda abgeschafft – es gab keine indigene Sklavenarbeit mehr. Die einheimische Gemeinschaftsstruktur wurde respektiert; beziehungsweise passte sie sich an das spanische Ausbeutungsmodell an. Diese Form der Organisierung wird als Ursprung von Paraguays Sonderweg betrachtet – und hat dafür gesorgt, dass die Sprache Guaraní dort noch wichtiger ist als Spanisch.

Die guaranischen Jesuitenmissionen waren dem damaligen Arbeitsrecht um fast dreihundert Jahre voraus. Sie legten den Arbeitstag auf sechs Stunden fest und führten die Schulpflicht für Jungen und Mädchen bis zum Alter von zwölf Jahren ein. Im Gegensatz zu Hegel, der behauptete, »die Guaraní seien so faul, dass sie sogar das Fortpflanzen vergaßen und die Jesuitenpriester sie mit einem nächtlichen Glockengeläut zur Paarung auffordern mussten«, erwiesen sich die Missionen als prosperierend und arbeitsam und stellten zudem ein wichtiges Hindernis für die Expansion der Portugiesen dar. Die sogenannten Bandeirantes, die portugiesischen Kolonisten, widmeten sich zu der Zeit der Jagd auf Indigene, um sie als Sklaven in São Paulo und Rio de Janeiro zu verkaufen.

Doch nicht alles war rosig in den Missionen: Die Guaraní wurden instrumentalisiert, um widerständige Stammesangehörige zu unterwerfen, die koloniale Expansion voranzutreiben und Aufstände der Kreolen – in den Kolonien geborene Nachfahren von Europäern – gegen die Krone niederzuschlagen.

Zwischen Krone und Kreolen

Der Aufschwung der Missionen weckte den Neid der reaktionären kreolischen Landbesitzer, die die Indigenen gemäß »Gottes Willen« ausbeuten wollten: als Leibeigene in den Minen und in der Landwirtschaft. Afrikanische Sklaven waren zu der Zeit sehr teuer. Im Zuge einer Revolte von 1721 bis 1735 setzten sie den mit den Guaraní verbündeten Gouverneur ab und zogen in den Krieg gegen die Missionen und jede Autorität, die sich ihnen entgegenstellte. Anfangs schlossen sie sich noch unter dem Motto zusammen: »Es lebe der König und sterbe die schlechte Regierung« – gemeint waren die Gesetze der Jesuiten, die den Indigenen Rechte gaben. Letztlich stellten sie jedoch auch die Autorität der Krone in Frage. Eine solche Gotteslästerung war natürlich inakzeptabel, und so wurden alle kreolischen Aufständischen zum Tod durch den Strang und zur Einziehung ihres Vermögens verurteilt. Der Vizekönig von Peru und der Gouverneur von Buenos Aires ließen die Befehle ausführen. Paraguay wurde isoliert und unter die Vormundschaft des neuen Vizekönigreichs Buenos Aires gestellt.

In der Zeit der Kolonisierung durch die Spanier und Portugiesen (1580–1640) näherte sich das kontrollierte Gebiet immer mehr den heutigen Grenzen Brasiliens an. 110 Jahre nach der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit unterzeichnete Portugal mit Spanien 1750 den Vertrag von Madrid, in dem die portugiesischen Besitzungen anerkannt wurden. Sieben paraguayische Jesuitenposten mussten sich Brasilien anschließen. Die Jesuiten wollten ihre Form der Organisierung verteidigen, bauten eine widerständige indigene Miliz auf und führten von 1754 bis 1756 einen Krieg, in dem etwa 10.000 Indigene ums Leben kamen und die Missionen zerstört wurden. Die Überlebenden suchten Zuflucht in den Städten oder flohen in die Berge. 1767 vertrieb Spanien die Jesuiten aus Angst vor deren Macht aus allen seinen Gebieten, so wie es Portugal und Frankreich einige Jahre zuvor schon getan hatten. Paraguay geriet in Ungnade bei der Krone, es kam zu Repressionen, alle Aufständischen wurden enthauptet, ihr Vermögen beschlagnahmt, und schließlich wurde das Vizekönigreich Rio de la Plata (1776) gegründet – mit ­Buenos Aires als Zentrum und Paraguay als tributpflichtiger Verwaltungseinheit. Die Rivalität zwischen Asunción, das noch heute die Hauptstadt Paraguays ist, und Buenos Aires wurde immer unversöhnlicher.

30 Jahre später, mit den napoleonischen Invasionen in Europa, begann der Krieg gegen die Krone auf dem Kontinent. Der Ruf nach Unabhängigkeit wurde laut, und Bürgerkriege brachen aus. Nicht jedoch in Paraguay, das sich als »neutral« erklärte und sich den Unabhängigkeitskämpfern aus Buenos Aires nicht unterordnen wollte. In einer Versammlung des Stadtrats von Asunción im Juli 1810 sagte der Paraguayer García de Francia: »Diese Versammlung wird ihre Zeit nicht damit verschwenden, darüber zu debattieren, ob der feige Vater oder der ängstliche Sohn der König von Spanien ist. Keiner von beiden ist mehr König von Paraguay. Die einzige Frage, die in dieser Versammlung diskutiert und mit Stimmenmehrheit entschieden werden muss, ist, wie wir unsere Unabhängigkeit gegen Spanien, gegen Lima, gegen Buenos Aires und gegen Brasilien verteidigen und bewahren können.« Der Stadtrat von Asunción lehnte es ab, die spanischen Behörden abzusetzen. Daraufhin schickten die Revolutionäre in Buenos Aires eine Armee, um Asunción mit Gewalt in ihre Unabhängigkeitsbewegung zu integrieren. Doch sie wurde von den Paraguayern besiegt.

Souveränität ohne Krieg

Anstatt den Sieg zu feiern, fürchtete der spanische Gouverneur die siegreiche Armee, ihre Kommandeure wurden an den Rand der Provinz geschickt und alle Waffen beschlagnahmt. Doch eine kleine Gruppe von Soldaten setzte den Gouverneur ab – ohne Blutvergießen. Die Paraguayer übernahmen im Mai 1811 die Macht. Das unabhängig gewordene Land wurde sofort von Buenos Aires, dem brasilianischen Reich und Bolivien isoliert, was die Einwohner jedoch nicht sonderlich zu stören schien; sie entwickelten ihre Regierung und ihr Leben mit dem Rücken zum Rest der Welt. Während der Kontinent in Blut getränkt wurde, entwickelten sie die Landwirtschaft und führten die demokratischste Agrarreform des Kontinents durch – der gesamte spanische und europäische Grundbesitz wurde enteignet. Die kostenlose und obligatorische Schulpflicht bis zum 15. Lebensjahr wurde eingeführt, und als eines der ersten Länder der Region konnte Paraguay den Analphabetismus weitgehend beseitigen. Der Klerus wurde enteignet, die Inquisition abgeschafft, eine säkulare Regierung eingeführt, und die Priester wurden zu Beamten. Es gab keine Bischöfe, keine Landeswährung und keine Banken; der Handel erfolgte über Tauschgeschäfte. Während England, Frankreich und die USA die im Zuge der Unabhängigkeitskriege entstandene Schuldenlast als Druckmittel nutzten, um überall auf dem Kontinent die Öffnung der Märkte zu erzwingen, galt das nicht in Paraguay. Es erreichte seine Souveränität ohne großen Krieg – frei von Schulden prosperierte das Land.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann Paraguay eine langsame Öffnung, es wurde eine nationale Währung eingeführt, und die Industrialisierung begann. Asunción wurde mit dem Rest des Landes durch die Eisenbahn verbunden, der Telegraph wurde eingeführt, und Eisenhütten wurden gegründet. Erste Werften wurden errichtet, Dampfschiffe gebaut, und bald verfügte das Land über die größte Handelsflotte des Subkontinents. Auch die Armee wurde verstärkt, um Brasilianer und Argentinier, die Paraguays Unabhängigkeit nicht anerkannten, in Schach zu halten.

London ermöglichte Völkermord

Das brasilianische Reich, das zwar 1822 unabhängig wurde, sich aber nicht von der kolonialen Expansionspolitik Portugals löste, wollte die »Lücke« füllen, die Spanien hinterlassen hatte. In den Kriegen, die das auslöste, wurde Paraguay zu einem Rivalen Brasiliens; für Argentinien war es nie mehr als eine rebellische Provinz. Der Untergang Paraguays lag im Interesse beider Mächte: Auf Betreiben Großbritanniens unterzeichneten Uruguay, Argentinien und Brasilien 1865 heimlich den Tratado de la Triple Alianza (Dreibundvertrag) und erklärten Paraguay den Krieg.

Die drei Armeen verübten einen Völkermord an der paraguayischen Bevölkerung – mit logistischer, finanzieller und militärischer Unterstützung durch London. Paraguay erhielt lediglich moralische Unterstützung vom Rest des Kontinents, mit Ausnahme der USA. Der Krieg kostete etwa 90 Prozent der männlichen Bevölkerung das Leben, nahezu alle Männer über zwölf und unter 60 wurden getötet. Die geschätzte Bevölkerung von 600.000 bis einer Million wurde auf knapp 100.000 Menschen dezimiert. Die Politik der Ausrottung war allumfassend, alle Wasserquellen wurden durch Leichen verseucht, die mit Cholera oder Pocken infiziert waren; viele Zivilisten wurden durch die Epidemien getötet. Nach Kriegsende wurden alle Fabriken demontiert, alle Schulen und Ausbildungsstätten zerstört. Es blieben weder Bibliotheken noch ein Nationalarchiv übrig. Paraguay verlor 40 Prozent seines Territoriums und musste die Kosten des Krieges übernehmen. Nur weil Brasilien das Land als Pufferstaat brauchte, verschwand es nicht komplett.

Von diesem tragischen Moment an ähnelte die Geschichte Paraguays derjenigen der übrigen Länder des Kontinents: Das Land wurde in die Instabilität gestürzt – es folgten Bürgerkriege um die Macht. Ihm blieb nichts übrig, als in das Rad der Geschichte der »dritten Welt« einzutreten, und wurde in eine unentrinnbare Verschuldung getrieben. Bis heute werden Paraguay Regierungen aufgezwungen, die mit der imperialen Politik übereinstimmen, so dass es die blutigste antikommunistische Politik des Kontinents betreibt. Der Preis für das Wagnis, »neutral«, unabhängig und autonom zu sein, ist hoch: die Zerstörung der Staaten und der Gesellschaften, aus denen sie bestehen.

Yvyty Jára Guasu stammt aus Paraguay. Er hat Ägyptologie an der Universität Kairo studiert

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