Deutsche Foltersiedlung bekommt Gedenkort
Von Juliana Rivas und Jakob Reimann, Villa Baviera
Nur eine kleine Plakette an der Rückseite des Folterkerkers erinnert an die schrecklichen Verbrechen, die dort einst begangen wurden. 2017 wurde diese kleine silberfarbene Mahnung an den berüchtigten Kartoffelkeller in der deutschen Siedlung »Colonia Dignidad« in Zentralchile angebracht. Ein Jahr zuvor wurde das Areal der sadistischen Sekte, die dort jahrzehntelang ihr Unwesen trieb, in der Amtszeit von Präsidentin Michelle Bachelet unter Denkmalschutz gestellt. Die Vorderseite des bewohnten Kartoffelkellers könnte so auch zu einem alten Haus spießig-rechter Deutscher im ländlichen Bayern gehören – samt Blümchen, Tischtennisplatte und im Wind wehendem Schwarz-Rot-Gold. In Zusammenarbeit mit den Schergen von Diktator Augusto Pinochet (1915–2006) wurden dort Dissidenten, Linke und andere »Staatsfeinde« zu Tode gefoltert oder »verschwanden«.
»Wahrheit und Gerechtigkeit für die Verbrechen an unseren Genossen sind eine Schuld, die die Staaten Chile und Deutschland einlösen müssen. Wir fordern Sie heute – mehr als 40 Jahre nach den Geschehnissen – auf, Kräfte zu bündeln und endlich in den Ermittlungen voranzukommen, die uns zur vollen Wahrheit und umfassenden Gerechtigkeit führen«, sagte Margarita Romero, Vorsitzende der chilenischen »Vereinigung für Erinnerung und Menschenrechte Colonia Dignidad« (AMCD), bei der Zeremonie im Beisein ehemaliger Täter und Opfer, Vertreter der Zivilgesellschaft sowie regionaler und nationaler Behörden. Der deutsche Staat war nicht anwesend.
Streng abgeschottet
Die »Colonia Dignidad« wurde 1961 von Paul Schäfer gegründet. Der gebürtige Bonner (1921–2010) hatte im Zweiten Weltkrieg als Sanitäter und Krankenpfleger für die Wehrmacht im besetzten Frankreich gedient. Wegen eines Glasauges war er nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden. Nach Kriegsende begann er – ohne jede theologische Ausbildung – als protestantischer Prediger zu arbeiten. Zunächst organisierte Schäfer Freizeiten für Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien, später auch für Waisen und Obdachlose. Bereits in dieser frühen Phase wurden Vorwürfe der sexualisierten Gewalt laut, und Schäfer wurde daher aus verschiedenen protestantischen Kirchen in Niedersachsen und Bayern ausgeschlossen. Nach erneuten Vorwürfen im Umfeld seiner Freikirche nahe der niederländischen Grenze floh Schäfer 1961 nach Chile. Ein Auslieferungsabkommen zwischen Deutschland und Chile bestand nicht, und Schäfer nutzte das verheerende Erdbeben von 1960 als Vorwand, um seine Übersiedlung als humanitäre Hilfe zu tarnen.
In Chile gründete er die deutsche Siedlung »Colonia Dignidad« – heute als »Villa Baviera« (Dorf Bayern) bekannt – am Rande der Anden in der Region Maule. Das ursprüngliche Areal umfasste 3.000, später bis zu 17.000 Hektar. Die deutschsprachige Gemeinschaft war streng abgeschottet, und die Bewohner durften das Gelände nicht verlassen. Schäfer verging sich dort systematisch an Kindern. Nach außen galt die »Colonia Dignidad« lange als wohltätig. Ein innerhalb der Siedlung errichtetes Krankenhaus stand auch der umliegenden Bevölkerung offen und wurde als Ausdruck sozialer Verantwortung wahrgenommen. Tatsächlich aber wurden Frauen ihre Kinder entrissen – vielen wurde erzählt, ihre Neugeborenen seien verstorben. Die Kinder wuchsen dann isoliert in der Kolonie auf und wurden sexuell und durch Zwangsarbeit ausgebeutet.
Während der chilenischen zivil-militärischen Diktatur unter Pinochet (1973–1990) wurde das Gelände mit Wissen und Billigung der Sektenführung vom Geheimdienst Dina genutzt, um politische Gegner zu foltern, zu ermorden oder verschwinden zu lassen. Nach dem Ende der Diktatur wurde Schäfer wegen zahlreicher Verbrechen angeklagt, darunter sexualisierte Gewalt, Zwangsarbeit und Folter. 1997 floh er erneut, wurde aber 2005 in Argentinien verhaftet und später in Chile zu 33 Jahren Haft verurteilt. Dort starb er 2010 im Gefängnis, während weitere Verfahren gegen ihn liefen.
Heute – unter der Regierung des linken Präsidenten Gabriel Boric – werden Teile des ehemaligen Koloniegeländes enteignet, um dort eine Gedenkstätte zu errichten. »Das ist keine bloße Verwaltungsmaßnahme«, erklärt Daniela Quintanilla, Staatssekretärin für Menschenrechte, gegenüber junge Welt. »Es ist eine Entscheidung mit tiefgreifender ethischer und politischer Bedeutung.« Angesichts von Stimmen, die die Diktatur verharmlosten oder rechtfertigten, sei es Aufgabe des Staates, »klare Zeichen zu setzen, die den unantastbaren Wert der Menschenrechte und unser Bekenntnis zum ›Nie wieder‹ in den Mittelpunkt stellen«.
»Noch vor wenigen Jahren schien es undenkbar, das Gelände der ehemaligen ›Colonia Dignidad‹ zurückzugewinnen – jenem Ort, der jahrzehntelang Symbol für Horror, Straflosigkeit und staatliche Komplizenschaft war«, sagt die AMCD-Vorsitzende Romero gegenüber jW. Sie würdigt die Entscheidung der aktuellen Regierung als wichtigen Schritt. Doch das Vorhaben stößt nicht überall auf Zustimmung. Vor allem einige der heutigen Bewohner der Siedlung lehnen die Enteignung ab – sie werden voraussichtlich weichen müssen, um Platz zu schaffen für die Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel deutsch-chilenischer Geschichte.
Die Rolle der BRD
Schon früh nach der Gründung der Kolonie wussten deutsche Behörden über die Verbrechen der Sekte Bescheid und kollaborierten teils bei dieser. Einer der eingesperrten Minderjährigen, Heinz Schmidt, schaffte es in den 60ern, aus der »Colonia« zu fliehen und sich in die deutsche Botschaft in der 400 Kilometer entfernten Hauptstadt Santiago zu retten. Dort wurde er bereits von den Tätern erwartet, dann unter Drogen gesetzt und zurück zur Foltersekte gebracht, berichtete Opferanwalt Winfried Hempel gegenüber der ARD 2016. 40 Jahre lang sei Schmidt daraufhin in der Siedlungsklinik eingesperrt gewesen, »immer unter Elektroschocks, immer unter Tabletten«, so Hempel. Nach diesem »Präzedenzfall« gab es noch einige wenige ähnliche Fluchtversuche, bis den Kindern klar wurde, dass die deutsche Botschaft das Gegenteil von Schutz bedeutete.
Im Juni 2017 forderte der Bundestag die Regierung von Angela Merkel einstimmig dazu auf, einen Hilfsfonds für die Opfer von damals einzurichten. Aus den Verbrechen in der »Colonia Dignidad« seien »keine rechtlichen Ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland entstanden«, sicherte sich die Bundesregierung zunächst juristisch ab, erklärte sich jedoch zu freiwilligen Unterstützungszahlungen bereit. Ab 2020 konnten Betroffene dann über ein typisch deutsch-bürokratisches Zweisäulenmodell Zahlungen beantragen. Über die erste Säule werden 7.000 Euro »ohne näheren Verwendungsnachweis« gezahlt sowie »ergänzend bis zu 3.000 Euro mit Verwendungsnachweis in Säule zwei«. Bislang seien so 1.330.000 sowie 564.000 Euro an 190 Personen ausgezahlt worden, heißt es aus dem Auswärtigen Amt auf jW-Anfrage. »Alle eingegangenen Anträge aus Hilfsleistungen« seien bearbeitet worden. Damit dürften die Gesamtzahlungen an die Folteropfer zwei Millionen Euro nicht übersteigen.
Für die AMCD-Vorsitzende Margarita Romero kann diese Symbolpolitik nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass der deutsche Staat weiterhin Tätern von damals »Schutz gewährt«. Mehrere Schlüsselfiguren von damals seien von der chilenischen Justiz angeklagt worden, doch Deutschland »verweigert die Auslieferung und lässt sie in Freiheit leben«.
Juliana Rivas ist freie Soziologin, Autorin und arbeitet zu Themen wie Colonial Studies und Feminismus
Jakob Reimann ist freier Journalist und Redakteur für Außenpolitik bei etos.media
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