»Educación Popular«
Von Aquarela Padilla und Dario Farcy
Dieser Artikel soll in die Arbeit des Bildungszentrums Lohana Berkins in Berlin einführen. Um zu verstehen, was wir dort tun und warum, ist es zunächst notwendig, darauf einzugehen, was »Educación Popular« (etwa Bildung von unten) ist und welche Wirkung sie in Unserem Amerika hatte; und darauf, welche organisatorischen Bedürfnisse migrierte lateinamerikanische Menschen in Berlin haben, die mit ihrem Einsatz eine solidarischere und demokratischere Zukunft aufbauen.
Educación Popular ist ein Lernprozess, der sich an prekarisierte Menschen richtet und politische sowie pädagogische Ziele verfolgt. Der Unterschied zu anderen Ansätzen ist, dass die Educación Popular zum Thema macht, wofür wir lernen, wie wir lernen und wie uns dieses Wissen hilft, das wirtschaftliche, politische und kulturelle System der Gesellschaft zu verstehen und zu verändern. Kurz gesagt: Die Educación Popular versucht, in die gesellschaftliche Realität einzugreifen – auf der Basis eines demokratischen und emanzipatorischen Prozesses, der eng mit den sozialen Bewegungen und ihrem Kampf für ein Leben in Würde verflochten ist. Ziel ist es, dass Lehrer und Schüler eine kritische Sicht auf die Welt entwickeln, um diese radikal zu verändern.
Bildung zur Befreiung
Als die Idee aufkam, ein Zentrum für Bildung von unten in Berlin zu gründen, brachten wir eine Reihe von Erfahrungen aus Lateinamerika ein – etwa die selbstorganisierten Schulen in Argentinien und die politische Bildung von Arbeitern auf lokaler Ebene in Venezuela. Diese Erfahrungen entsprangen den Kämpfen der sozialen Bewegungen auf dem Kontinent.
Für das Verständnis dieser Entwicklung ist ein kurzer historischer Abriss nötig: Einige Autoren datieren das Aufkommen des Begriffs auf die Kämpfe für Unabhängigkeit von der spanischen und portugiesischen Krone Anfang des 19. Jahrhunderts. Die gerade souverän gewordenen Staaten waren auf der Suche nach Bildungsmodellen in Übereinstimmung mit der neuen republikanischen Realität und förderten die öffentliche Schule als nationales, autonomes und obligatorisches Bildungssystem für ihre Staatsbürger. Entscheidende Impulsgeber und Vordenker der pädagogischen Projekte der jungen Republiken waren der Venezolaner Simón Rodríguez – Pädagoge, Philosoph, Politiker und Mentor des Revolutionärs Simón Bolivar – und der Kubaner José Martí – Schriftsteller, Politiker, Gründer der Revolutionären Partei Kubas 1892 und Organisator des Kubanischen Unabhängigkeitskriegs von 1895.
Andere Autoren datieren den Ursprung der Educación Popular auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, vor dem Hintergrund der sozialistischen, indigenistischen und anarchistischen Denkströmungen der Zeit. Ihnen zufolge entstand das Konzept im Zusammenhang mit dem Kampf der Arbeiterklasse und »der pädagogischen Selbstverwaltung, Gewerkschaftsschulen, Studienzirkeln (…), Volksbibliotheken, der Demokratisierung der Universität und anderen mit der Entstehung der Arbeiterbewegung verbundenen Elementen«¹. Ziel sei gewesen, mit einer Klassenperspektive auf das Bedürfnis der linken Bewegungen nach politischer Bildung zu reagieren. Bereits zu Beginn der 60er und 70er Jahre, mit der Kubanischen Revolution und der Regierung der Unidad Popular in Chile unter Salvador Allende (1970–1973), nahm die Educación Popular einen zentralen Platz in der Politik der emanzipatorischen Bewegungen ein – in einem Lateinamerika, das seine Selbstbestimmung gegen den US-Imperialismus anstrebte, entstanden die nationalen Alphabetisierungskampagnen in Kuba, Nicaragua und Chile, um der bis dahin ausgeschlossenen Bevölkerung den Zugang zu kostenloser öffentlicher Bildung zu garantieren. Zu dieser Zeit schlug der brasilianische Pädagoge Paulo Freire eine »Pädagogik der Befreiung« vor, die Kritik an der traditionellen Form des Frontalunterrichts übt und eine Alternative zu ihr darstellt, die die Rolle von Lehrern und Schülern neu denkt. Neben sozialistischen Regierungen gingen diese Prozesse auch aus christlichen Basisbewegungen, die mit der Befreiungstheologie verbunden waren, oder anderen marxistischen Bewegungen Lateinamerikas hervor.
Vom Süden in den Norden
Heute, nach Militärdiktaturen, Niederlagen sozialistischer Regierungen und der Wiederbelebung sozialer Bewegungen während des Aufstiegs des Neoliberalismus in den 90er Jahren, ist die Educación Popular noch immer ein wesentlicher Bestandteil der Kämpfe der Massen – von der Karibik bis zum Feuerland und in Reaktion auf die Bedürfnisse und den historischen Kontext der Bevölkerungen. Vom Martin-Luther-King-Zentrum in Kuba bis zu den Lagern der Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) in Brasilien ist diese pädagogische Praxis zu einem Paradigma für die Festigung der Gegenmacht der armen Massen und zum Bestandteil einer politischen Tradition geworden, die ebenso die lateinamerikanischen Migrantenbewegungen im globalen Norden antreibt, unsere Erinnerung und die Strategien des Kampfes unserer Völker einzubringen, um auch hier für ein Leben in Würde für alle zu kämpfen.
So entstand die Idee, ein Zentrum der Bildung von unten in Berlin zu gründen, benannt nach Lohana Berkins (1965–2016), Pädagogin, linke Aktivistin und Verteidigerin der Rechte von trans Menschen. Damit haben wir einen für alle zugänglichen pädagogischen Raum geschaffen, der Kritik an einer Gesellschaft übt, die sich zunehmend in eine ultrarechte Richtung bewegt.
Gemeinsame Kämpfe
Beim Nachdenken über die Hürden, die wir bei unserer Politisierung erlebt haben, wurde uns bewusst, dass das Erlernen von Sprache – in unserem Fall von Deutsch als Fremdsprache – für uns alle eine wesentliche Barriere war. Es gibt viele staatliche und private Angebote für das Deutschlernen in Berlin; fast alle zielen darauf, Migranten als prekäre Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt zu »integrieren«, was im Grunde die unkritische Assimilation in ein ungleiches Gesellschaftssystem bedeutet. Eine Sprache zu erlernen bedeutet für uns nicht nur, hinter einer Kasse sitzen oder in einem Altenheim arbeiten zu können, sondern das System zu verstehen, das uns unterdrückt – zu begreifen, wie Politik in diesem Land abläuft, welche spezifische Sprache verwendet wird und welche Ideologie hinter den Begriffen steckt. Ein solches Erlernen von Sprache ist ein Instrument zur Stärkung von Migranten und ihrer politischen Organisierung.
Eine vielfältige Gesellschaft, die in der Lage ist, kreative Lösungen für aktuelle Probleme zu finden, ist eine, die Migration als Möglichkeit und nicht als Problem begreift. In diesem Sinne ermöglichen es Migration und Vielfalt, eine neue Gesellschaft aufzubauen. In der aktuellen Lage in der BRD, in der Migranten der Arbeiterklasse zunehmend kriminalisiert werden und unser Leben immer prekärer wird, sind Räume für Bildung und Organisierung dringend notwendig. Damit diese bestehen bleiben, braucht es Solidarität und Selbstverwaltung, denn Teil der Strategie der Rechten ist es, die Mittel für Gemeinschafts-, Bildungs- und Kulturprojekte zu kürzen. Heute müssen wir mehr denn je die Basis der Gemeinschaft stärken – für diese kollektive Aufgabe schlagen wir die Educación Popular vor und stellen unsere Erfahrung mit dem Konzept zur Verfügung. Denn im Verbund migrantischer und nichtmigrantischer Gruppen müssen wir weiter gemeinsam die Macht derer, die uns die Ökonomie des Krieges und des Hungers aufzwingen, bekämpfen.
¹ Oscar Jara Holliday, La Educación Popular Latinoamericana. Editorial El Colectivo. Buenos Aires 2020.
Aquarela Padilla und Dario Farcy sind Teil des Koordinationskreises des Bildungszentrums Lohana Berkins. Padilla stammt aus Venezuela und studiert spanische und italienische Philologie. Farcy stammt aus Argentinien und hat Politikwissenschaften studiert. Am 16. August wird das Bildungszentrum seinen dritten Geburtstag in der Casa Popular Marielle Franco in der Solmsstraße 18 in Berlin feiern. Sie laden alle ein, die mehr über das Projekt erfahren möchten. Das Projekt kann auch über die Website unterstützt werden: www.ceplohanaberkins.org/unterstutzen
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