Empirie statt Mythen
Von Fabian Linder
Die Vehemenz der Debatte und der Gesetzesverschärfungen gegen staatlich unerwünschte Migrantinnen und Migranten verstärken den bereits in der Bundestagswahl von SPD bis AfD vermittelten Eindruck, es handele sich um das Jahrhundertthema schlechthin. Der empirische Blick der Sozialforschung auf globale und historische Trends in der Migration entlarvt dies dagegen als realitätsferne Propaganda. So gehöre mit der Vorstellung aufgeräumt, es handele sich um eine noch nie dagewesene Menschenwanderung, deren Ursachen ausschließlich in Armut, Krieg oder Klimakrise lägen, befindet beispielsweise der niederländische Migrationsforscher Hein de Haas.
Im historischen Rückblick lasse sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Veränderung in der geographischen Ausrichtung weltweiter Migrationsströme erkennen, wie der Soziologe bei einem Vortrag des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung Ende 2024 das Ergebnis seiner Analysen erklärte. In den Jahrhunderten zuvor waren es europäische Siedler oder Auswanderer, die nach Afrika, Asien und Amerika migrierten. Aus dieser Perspektive sei der europäische Kolonialismus die größte illegale Migration in der Geschichte der Menschheit. Auch der Arbeitskräftemangel machte Mitte des 20. Jahrhunderts Westeuropa zum wichtigsten Migrationsziel.
Der Anstieg der Migration bleibe – gemessen an der Weltbevölkerung – relativ stabil bei drei Prozent, wovon wiederum zehn Prozent Fluchtmigration ausmache. Die illegalisierte Migration sei bei weitem nicht so umfangreich. Starke Anstiege lassen sich auf akute Kriegsereignisse zurückführen. Tendentiell handele es sich mit 50.000 bis 100.000 jährlich um lediglich zwei bis fünf Prozent der gesamten Einwanderung in die EU. Karten der EU-Grenzagentur Frontex täuschen, wenn die Darstellung eine »Invasion andeutet«, während mit 80 bis 85 Prozent, der überwiegende Teil Geflüchteter in Nachbarländern, nahe der Heimat, unterkommt. Neun von zehn afrikanischen Auswanderern verlassen ihr Land legal mit Pass und Papieren. Deshalb verzerre das von Politikern und Medienberichten gezeichnete Bild der ausschließlichen illegalen Einwanderung mit Booten übers Mittelmeer die Wirklichkeit, kritisiert der Migrationsforscher. Vor allem aber fielen damit die Haupttreiber der Migration unter den Tisch.
Einwanderung sei ein unvermeidliches Nebenprodukt hochentwickelter Länder, die in vielen auch systemrelevanten Bereichen und bei geringqualifizierten Tätigkeiten auf Arbeitskräfte von außerhalb angewiesen seien, beschreibt de Haas den Zusammenhang zwischen Entwicklung und Migration. Dabei sei vor allem das Argument zu entkräften, welches auch durch Gewerkschaften tradiert wurde, Migranten würden Arbeitsplätze wegnehmen, Löhne drücken und Arbeitsstandards untergraben. Dies lasse sich empirisch nicht stützen, statt dessen zeigten etwa Beispiele wie der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU, mit dem die britische Regierung auf den freien Zustrom von Arbeitskräften aus Osteuropa einhegen wollte, dass es zu einem Arbeitskräftemangel bei der Gemüseernte und im Nationalen Gesundheitssystem kam, weshalb die Regierung im Ausland nach Arbeitskräften werben musste.
Auch in den Herkunftsländern führe die wirtschaftliche Entwicklung zu einem Anstieg der Migration, da die dafür notwendigen Ressourcen, Fähigkeiten und auch Ambitionen, stiegen. Entsprechend bewertet de Hass die Idee, wonach »Entwicklungshilfe« Fluchtursachen eindämme, als Mythos. Vielfach wird eine temporäre Migration in den globalen Norden als Investition in eine bessere Zukunft betrachtet, da man dort das fünf- bis zehnfache verdienen könne. Das Geld, welches Migranten dabei an ihre Familien in den Herkunftsländern direkt überweisen, übersteige die Entwicklungshilfe um das Zweieinhalbfache. Daher lasse sich auch eine starke Korrelation zwischen Konjunkturzyklen und Arbeitsmigration erkennen. Hohe Erwerbslosigkeit und wirtschaftlicher Rückgang würden eher zu einer Abwanderung und weniger Einwanderung führen. Der Arbeitskräftemangel sowie der gleichzeitige Mangel an legalen Migrationsmöglichkeiten führe zu einer »chronischen Grenzkrise«. Diese wiederum geht einher mit der stillschweigenden Akzeptanz der Ausbeutung von Arbeitsmigranten. Mit der Behandlung dieser Menschen als bloße Arbeitskräfte werde Integration vielfach erschwert.
Es sei ebenfalls ein Mythos, dass Einwanderungsbeschränkungen zu weniger Migration führten. Man müsse Migration als »langfristigen Prozess des Kommens und Gehens verstehen«. Grenzkontrollen führten lediglich zur ständigen Verschiebung und Verlagerung von Fluchtrouten, während die Abschaffung legaler Migrationswege diese in den Untergrund treibe. Zwar zeigten empirische Daten, dass Einwanderungsbeschränkungen die Einwanderung reduzieren, gleichzeitig aber die Rückwanderung noch deutlicher reduzieren. Einst temporäre Migranten lassen sich in der Folge dauerhaft nieder. Die hochgerüsteten Mauern und Zäune zur »Grenzsicherung« schaffen somit die Grundlage dessen, was sie offiziell zurückdrängen sollen.
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